Die Schweiz ergreift fremdenpolizeiliche Massnahmen gegen die "Festsetzung wesensfremder Elemente" (Juden)


Rundschreiben Nr. 164 des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, gez. Bundesrat Heinrich Häberlin, an die Polizeidirektionen der Kantone und an die schweizerischen Gesandtschaften und Konsulate in Europa [1]

31.3.1933

Einreise von Israeliten

Sehr geehrte Herren,

I. An die Kantone

Die Ereignisse in Deutschland veranlassen eine grosse Zahl von Israeliten zur Abwanderung. Viele davon suchen ihre Zuflucht in der Schweiz. Wenn wir auch der Auffassung sind, dass diesen Ausländern in der gegenwärtigen für sie schweren Zeit ein vorübergehender Aufenthalt in unserem Lande nicht verwehrt werden sollte, so verlangt doch unsere Lage in Bezug auf die Überfremdung dieser Zuwanderung gegenüber die grösste Aufmerksamkeit. Wir dürfen von unserer bisherigen fremdenpolizeilichen Praxis trotz der heutigen Ereignisse nicht abweichen und müssen uns vor allem gegen eine Festsetzung wesensfremder Elemente mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln wehren.

Da bei vielen von diesen Ausländern, wie wir übrigens anhand von Einzelfällen bereits haben feststellen können, zu erwarten ist, dass sie versuchen werden, bald nach der Einreise die Grundlagen und Beziehungen für einen dauernden Aufenthalt zu schaffen, muss von allem Anfang an dagegen eingeschritten werden. Geschieht dies nicht, so sind die Leute später nur schwer oder gar nicht mehr wegzubringen. Wir ersuchen Sie deshalb, alle Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel anzuwenden, um dies zu verhindern.

Wichtig ist vor allem, dass diese Ausländer, auch wenn sie nicht erwerbstätig sind und sich in Hotels aufhalten, unverzüglich zur Anmeldung und Einreichung von Aufenthaltsgesuchen veranlasst werden, sobald bekannt wird, dass sie die Absicht des längeren Verbleibens haben, also stets wenn Anstalten zum Erwerb einer Liegenschaft, zur Gründung eines Geschäftes, zur Beteiligung an einem solchen oder sonst zur Gründung einer Existenz in der Schweiz getroffen werden. Wir empfehlen Ihnen, durch regelmässige Veröffentlichung in den Amtsblättern und in der Presse bekanntzugeben, dass der Erwerb einer Liegenschaft, der Mietvertrag für eine Wohnung, die Gründung eines Geschäftes oder die Beteiligung an einem solchen usw. keinen Anspruch auf Erteilung der Aufenthaltsbewilligung geben, dass vielmehr eine solche nachgesucht werden muss, bevor diese Anstalten getroffen werden, weil die Fremdenpolizei jede Aufenthaltsbewilligung verweigern müsse, wenn sie vor ein fait accompli gestellt werde.

Es kann kein Zweifel bestehen daran, dass eine grosse Zahl dieser Ausländer mit der Absicht zu uns kommt, sich für dauernd festzusetzen. Auch wenn sie gemäss Art. 18 der Verordnung über die Kontrolle der Ausländer vom 29. November 1921 / 7. Dezember 1925 eine schriftliche Erklärung abgeben, wonach sie auf Erwerbstätigkeit verzichten, muss deshalb für die formelle Behandlung von Aufenthaltsgesuchen in allen Fällen, ohne Ausnahme, angenommen werden, dass sie sich nicht nur für beschränkte Zeit in der Schweiz aufhalten werden. Es sind deshalb alle Aufenthaltsbewilligungen gemäss Art. 19 der Verordnung der eidgenössischen Fremdenpolizei zu unterbreiten. Die Bewilligungen dürfen jeweils nur für kurze Zeit, 1 – 3 Monate, erteilt und gegebenenfalls verlängert werden, damit je nach der Entwicklung der Verhältnisse die Ausreise auf kurze Frist veranlasst werden kann. Wir bitten Sie dringend, dieser Weisung Folge zu geben, weil wir nur durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Kantonen und eidgenössischer Fremdenpolizei der Lage Herr werden können.

Die zuwandernden Israeliten werden wohl meist Berufen angehören, die in der Schweiz schon längst überfüllt sind wie kaufmännische Angestellte, Techniker und Ingenieure, Musiker, Juristen, Ärzte und andere akademische Berufe. Die Bewilligung zur Ausübung dieser Berufe darf deshalb unter keinen Umständen erteilt werden, bei akademischen Berufen auch in den Kantonen nicht, in denen deren Ausübung durch Ausländer frei ist oder im Einzelfall gestattet werden kann. Wir sind uns bewusst, dass die Durchführung dieser Weisung im Einzelfall zu Härten führen kann. Die Betroffenen dürfen aber nicht vergessen, dass sie dankbar sein müssen dafür, dass die Schweiz die Grenze offen gelassen und ihnen über die schlimmste Zeit vorübergehend Zuflucht gewährt hat. Die Hintansetzung des allgemein schweizerischen Interesses am Schutze des Arbeitsmarktes und an der Abwehr der weiteren Zunahme der bei uns schon herrschenden Überfremdung können sie nicht beanspruchen. Ebensowenig Schweizer, die ein Interesse an der Auswertung der Fähigkeiten oder der finanziellen Mittel solcher Ausländer haben.

Wir bitten die Kantone, sich ebenfalls nicht durch Steuerinteressen einzelner Gemeinden beirren zu lassen.

Bei diesen Ausländern ist, wie bei allen anderen, durch eine sorgfältige polizeiliche Kontrolle darüber zu wachen, dass sie nicht ohne die vorgeschriebene Bewilligung eine Erwerbstätigkeit ausüben oder gar eine Stelle antreten, auch nicht die an allfällige Aufenthaltsbewilligungen geknüpften Bedingungen ausser Acht lassen. Wo dies festgestellt wird, ist unnachsichtlich einzuschreiten, gegebenenfalls durch Entzug der Aufenthaltsbewilligung. In allen diesen Fällen ist die formelle Wegweisung zu verfügen. Um Trölereien zu vermeiden, ist sofort der eidgenössischen Fremdenpolizei Antrag auf Ausdehnung der Wegweisung auf die ganze Schweiz zu stellen.

Sollte das Verhalten solcher Ausländer Anlass bieten zu Beunruhigung im Innern oder zur Störung der Beziehungen zu einem anderen Lande, so sind sie selbstverständlich ebenfalls sofort wegzuweisen. Über die fremdenpolizeiliche Behandlung der politischen Flüchtlinge werden demnächst besondere Weisungen erlassen.

II. An die Konsulate

Die Konsulate sollen die vorstehenden Weisungen an die Kantone zur Richtschnur nehmen bei der Erteilung von Auskünften, die von ihnen über die fremdenpolizeiliche Praxis in der Schweiz verlangt werden. Ebenso bei der Behandlung von Einreisegesuchen von Ausländern, die zum Grenzübertritt noch eines konsularischem Visums bedürfen (Polen, Yugoslaven, Bulgaren, Griechen, Türken, Rumänen und Ausländer ohne gültige, vom von der Schweiz anerkannten Heimatstaat ausgestellte Ausweispapiere. Für Sovietrussland bestehen besondere Weisungen).

Wir rufen Ihnen insbesondere eine Instruktion in Erinnerung, die schon mehrfach gegeben wurde und immer wieder unbeachtet geblieben ist: Ausländern ohne gültige Ausweispapiere dürfen Visa in eigener Kompetenz der Konsulate nur erteilt werden, wenn von vornherein feststeht, dass es sich nur um einen vorübergehenden Aufenthalt von allerhöchstens drei Monaten handelt. Aufenthaltsverlängerungen sind in solchen Fällen ausgeschlossen. In diesen Fällen ist folgender Eintrag in den Pass zu machen:

„Gültig zur Einreise in die Schweiz und zu einem Aufenthalt bis höchstens ... (der Schlusstag ist anzugeben; er darf längstens 3 Monate vom Datum des Visums entfernt sein) zum Zwecke ... Die schweizerischen Vorschriften über Anmeldung und Aufenthaltsregelung bleiben vorbehalten. Aufenthaltsverlängerung über den angegebenen Tag hinaus durch die Inlandbehörden ist ausgeschlossen."

Die Weisungen an die Kantone dürften im übrigen eine genügende Richtlinie sein für das Verhalten der Konsulate. Wir fügen nur bei, dass Arbeitsuchenden ganz allgemein von der Einreise in die Schweiz abzuraten ist.

Zum Schluss bitten wir Kantone, Gesandtschaften und Konsulate, allgemeine Wahrnehmungen über die Entwicklung der Verhältnisse, die die Fremdenpolizei interessieren können, der eidgenössischen Fremdenpolizei bekanntzugeben.

Genehmigen Sie, sehr geehrte Herren, die Versicherung unserer ausgezeichneten Hochachtung.

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[1] LI LA RF 133/036/001. Zur Anwendbarkeit des Kreisschreibens auf Liechtenstein siehe LI LA RF 133/036/003.