Bericht über die Internierung und die Verhältnisse in den Lagern der Ersten Russischen Nationalarmee der Wehrmacht in Liechtenstein


Bericht von Regierungsrat Anton Frommelt an das Rote Kreuz [1]

o.D. (Ende Juni 1945)

Kurzer, zusammenfassender Bericht über das Interniertenlager in Ruggell, Liechtenstein, zu Handen des Roten Kreuzes

I. Geschichtliches

In der Nacht vom 2. auf den 3. Mai 1945 überschritt eine Gruppe von 494 Russen unsere Landesgrenze über Nofels–Schellenberg, wurde in Schellenberg ohne Zwischenfall entwaffnet und interniert. Die Internierten setzten sich zusammen aus einer kleineren Gruppe Zivilisten und einen Hauptteil militärischer Formation. [2] Die Internierten waren zuerst untergebracht in 4 Teillagern, nämlich die Zivilisten in Mauren, Vereinshaus, der General [Artur Holmston] und sein Stab in Gamprin, Waldegg, eine Gruppe von 221 Personen im Schulhaus in Schellenberg und eine weitere Gruppe von 235 Personen im Schulhaus Ruggell.

Frauen:Männer:Kinder:
Mauren209
Gamprin, General und 7 Offiziere18
Schellenberg62132
Ruggell3232
304622

Durch die geteilte Campierung entstanden besondere Schwierigkeiten und vermehrte Auslagen der Verpflegung, daher wurde das ganze Lager mit Ausnahme der Gruppe Gamprin bis auf den 10. Mai 1945 nach Ruggell zusammengezogen. In Ruggell wurde die innere Lagerordnung der Gruppe selbst aufgetragen, so auch die Besorgung der Verpflegungsarbeit, die durch die soldatische Mannschaft bis auf den heutigen Tag besorgt wird. Nach anfänglicher Auffassung sollte die Gruppe in kürzester Zeit, sei es nach der Schweiz, sei es nach dem weiteren Auslande, wieder abgezogen werden. Daher war die erste Einrichtung einfachst und mehr provisorisch. Die Ausrüstung der Mannschaften für ihre persönlichen Bedürfnisse war eine durchschnittlich äusserst mangelhafte sowohl in Bezug auf Kleidung als Gebrauchsgegenstände. Verhältnismässig ordentlich war diesbezüglich die Lage bei den Offizieren. Offiziere und Mannschaften teilten sich im Lager nach eigener Aufteilung, in verschiedenen Baracken das Mannschaftspersonal, in einem geräumigen Saal das Offizierscorps und, auf der abgeschlossenen Bühne und Zimmer mit eigenem Zugang, die Frauen.

Schon mit 14. Mai meldeten sich die ersten unter den Mannschaften zum Rückzug über die Grenze nach Feldkirch. Durch Verhandlungen mit den französischen Besatzungsbehörden wurde es möglich, die Leute, die einen solchen Wunsch äusserten, anstandslos über die Grenze zu bringen mit der Aussicht, sie bei baldiger Möglichkeit in ihre Heimat weiterhin abzuleiten. [2] Es folgten bald verschiedene Gruppen, sodass bis auf den heutigen Tag eine Zahl von 186 das Lager mit der Absicht heimzukehren verlassen haben und mit Ausnahme von 4 Mann, die über die Schweiz zurückkehrten, sämtliche über die Grenze Schaanwald-Tisis in französisches Besatzungsgebiet zurückgekehrt sind im Vertrauen, von dort aus nach ihrer Heimat weitergeschafft zu werden. Eine Beeinflussung der Internierten in ihrer freien Entschliessung zur Rückkehr fand nicht statt, sondern es wurde vielmehr seitens der internierten Gruppe im Gegensinne gearbeitet.

Nach einer Quarantänezeit von ca. 5 Wochen wurde ein grösserer Teil der Mannschaft, soweit sie sich freiwillig zur Verfügung stellte, in den Arbeitseinsatz gebracht und zwar fast ausschliesslich im Sinne landwirtschaftlicher Hilfsarbeit. Zur Zeit stehen ca. 150 Mann in diesem Arbeitseinsatz. Die Absicht der Lagerleitung beim Arbeitseinsatz bestand viel weniger darin, Arbeitskräfte aufzutreiben, als vielmehr darin, den Lagerinsassen eine reichlichere und bessere Nahrung auf diesem Wege zukommen zu lassen. Es war dies auch notwendig, da trotz verschiedener Bestrebungen die erwartete baldige Weiterleitung der Internierten ausgeschlossen erschien. Die Internierten bedeuteten ihrer Zahl einen Zuschuss zu unserer Landbevölkerung von ca. 5 % und einen Arbeitszuschuss im Sinne der Belastung unseres Arbeitsmarktes von ca. 20 %. Eine Arbeitszuteilung im Sinne der gewerblichen Betätigung, wie sie von den Lagerinsassen gewünscht wurde, war bei unseren Arbeitsverhältnissen vollständig ausgeschlossen, weil damit die ganze Arbeitsordnung unseres Arbeitsmarktes untragbar gefährdet worden wäre. Der Nationalität nach sind die Internierten zusammengesetzt aus Angehörigen verschiedenster russischer Gebiete, besonders aber eigentlichen Russen, Ukrainern, Tataren und einer kleinen Gruppe von 14 Mann zubeordneten Reichsdeutschen, die als Kraftfahrer der Gruppe zugeteilt waren.

Die militärische Organisation der Internierten scheint noch äussert mangelhaft zu sein. Der Grossteil der Mannschaften besteht aus einem Konglomerat deutscher Arbeitslager, Flüchtlingslager und Gefangenenlager und zu einem beträchtlichen Teil aus Leuten, die sich überhaupt nie militärisch bestätigt hatten, sondern als Zwangsarbeiter aus den deutsch besetzten Gebieten nach Deutschland überführt wurden. Ein geringer Teil besteht aus Emigranten der ersten russischen Revolution und ein Teil aus Freiwilligen der deutschen Wehrmacht.

Gesundheitlich war die Gruppe bei ihrem Übertritt in günstigem Zustand mit Ausnahme eines offen TBC kranken Offiziers und einiger weiterer chronisch erkrankten Leute war der Grossteil der Mannschaft gesund, verhältnismässig sauber und nicht übermässig verlaust. Die notwendigen Vorkehrungen der Quarantänezeit haben deswegen die beste Wirkung gezeigt, sodass in keiner Weise irgendwelche Epidemie oder weitere infektiös charakterliche Krankheiten in Erscheinung traten. Der Gesundheitszustand der Gruppe ist heute ein äusserst günstiger, wobei die günstige Witterung auch sehr viel beigetragen hat.

Im Arbeitseinsatze bewähren sich die Internierten als willige fleissige Leute, mit denen man recht zufrieden sein kann.

Schwierigkeiten disziplinärer Art in erheblichem Masse sind bis heute nicht aufgetreten.

II. Verpflegung und Sanität

Die Verpflegung der Mannschaften besteht aus den vom Kriegswirtschaftsamt zur Verfügung gestellten Rationierungszuweisungen und einem weitgehenden Teil freier Zuschüsse an allen möglichen erreichbaren Nahrungsmitteln. Die Gruppe leidet einigermassen Mangel an Brot, da die Leute gewöhnt sind, viel Brot zu essen, zudem in der Verarbeitung der Nahrungsmittel möglichst einfach vorgehen und durch das Ernährungsamt mit 200 Gramm Brot pro Tag auskommen müssen. Die 200 Gramm können tatsächlich durch die freien Zuschüsse seitens der Bevölkerung und durch die besonderen Umstände der Ernährungsverhältnisse im Arbeitseinsatz auf 250 bis 300 Gramm erhöht werden. Kartoffeln stehen verhältnismässig reichlich zur Verfügung und in gleicher Weise konnte auch auf dem Wege freiwilliger Gaben Trockengemüse und besonders Hülsenfrüchte zugestossen werden. Die Lebensmittelvorräte, die die Gruppe mit sich führte, waren sehr gering und scheinen auch organisationsmässig zu wenig geregelt gewesen sein. Jedenfalls waren sie bald völlig erschöpft.

An Medikamenten und medizinischen Instrumenten brachte die Gruppe sozusagen nichts mit sich, hingegen verfügte die Gruppe über Sanitätspersonal und zwar Ärzte und Hilfspersonal. Den inneren sanitären Dienst des Lagers besorgen diese Leute. Die Oberleitung führt Herr Landesphysikus Dr. [Martin] Risch, der auch die einzelnen Krankheitsfälle periodisch kontrolliert. Ein Fall von offener TBC, von Gallenleiden, ein verdächtiger Fall von Angina, ein kleiner Unfall und ein weiterer Krankheitsfall wurden zur weiteren Behandlung und Absonderung dem Spital in Vaduz zugeführt. Zum Ersatz der mangelhaften Vitaminzuführung und zur Vermeidung von Vitamin Mangelkrankheiten wurde für das Lager ein grosser Posten Vitamintabletten zur Verfügung gestellt.

Für die geistige und religiöse Betreuung des Lagers wird dahin gesorgt, dass ein Pope von Zürich periodisch ins Lager kommt, um hier die religiöse Betreuung durchzuführen. Etwas Literatur konnte dem Lager verschafft werden, aber nicht in wünschbarem Ausmass. Die Lagerinsassen suchen selbst durch gewisse Veranstaltungen, Lehrstunden, Unterhaltungsabende und dergleichen einigermassen sich geistig zu betätigen und für geistige Unterhaltung zu sorgen. Diesbezüglich wäre in besonderer Weise der Zuschuss an Literatur sehr wünschbar. Unter den Offizieren versteht ein grösser Teil auch französisch und deutsch, unter den Mannschaften hingegen ist kaum anders als durch russische Literatur diesem Bedürfnis entgegenzukommen. Analphabeten sind wenige im Lager und die meisten der Leute sind also im Stande, sich bei Vorhandensein des nötigen Lesestoffes sich selbst irgendwie zu unterhalten und eventuell weiterzubilden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Gruppe der Internierten wie sie heute zum Teil im Internierungslager zum anderen Teil im Arbeitseinsatz sich befindet, gesundheitlich gut steht, nahrungsmässig mit dem Nötigsten versorgt ist, aber immerhin einen gewissen Mangel leidet an dem, was man zu einer ordentlichen Ernährung wünschbar finden müsste. Bezüglich Kleidung und Lagerung bestehende bedenkliche Mängel und wäre, sofern das Lager nicht vor Einbruch der Herbst- und Winterwitterung liquidiert werden kann, unbedingt Wesentliches neu zu organisieren und anders zu versorgen. Bedenklich dabei ist allein der Umstand, dass die Leute, sobald sie etwas haben, solches unter sich oder nach aussen hin zu verhandeln trachten, um sich aus dem Geld eventuell Alkohol oder andere Bedürfnisse zu befriedigen. Sofern das Rote Kreuz in der Lage wäre, auch das Lager in Liechtenstein in eine entsprechende Berücksichtigung zu ziehen, so möchte ich dahingehend die Bitten des Lagers, wie diese bereits dem Roten Kreuz zur Kenntnis gegeben wurden, wärmstens unterstützen.

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[1] LI LA RF 230/043v/021. Ein weiteres Exemplar unter LI LA RF 230/043r/006.
[2] Es handelte sich um die Reste der Ersten Russischen Nationalarmee.
[2] Vgl. den vermutlich von Regierungschef Josef Hoop erstellten Amtsvermerk über die Besprechung mit Hauptmann J. P. Legris vom 14.5.1945 (LI LA RF 230/043v/003).