Die "Vossische Zeitung" kritisiert die Einbürgerung der Gebrüder Rotter (Schaie) in Liechtenstein


Artikel in der "Vossischen Zeitung" [1]

7.4.1933, Berlin

Europa und das Ländchen

von Inquit

Fürstentum Liechtenstein, zwischen Österreich und der Schweiz eingeklemmt am Oberrhein gelegen, 157 Quadratkilometer groß, mit der Hauptstadt Vaduz, wird genannt „die einzige Monarchie deutscher Zunge." In der Tat: nur hier noch regiert über deutsch, und zwar allemannisch sprechende Landeskinder ein deutscher Fürst, dessen Kopf auf die Münzen des Landes geprägt wird. Das Fürstentum gehört nicht zur Schweiz, an das es sich im Jahre 1923 wirtschaftlich angeschlossen hat, es gehört nicht zu Österreich, an das es bis dahin wirtschaftliche sich lehnte, es gehört auch nicht zum Deutschen Reich. Als das Reich errichtet wurde, blieb das Ländchen draussen.

Die Einwohner treiben in Frieden Weinbau und Viehzucht, Fabriken gibt es so gut wie keine, man kennt die sozialen Nöte nicht, unter denen die Völker seit jeher und in jüngster Zeit bis zur Verzweiflung leiden. Aber „Gesellschaften" gibt es in Hülle und Fülle, auch von ihnen ist nichts zu merken, sie führen ihr Dasein ganz still und verborgen, obzwar gesetzlich – es gibt ihrer fast mehr als Einwohner. Aber dazu müsste man wissen, wieviel Einwohner es gibt.

Man weiss es nicht. Man weiss nur, dass nicht alle Einwohner im Lande wohnen. Man darf Liechtensteiner Staatsbürger sein und sogar es werden, ohne seinen Fuss je auf Liechtensteiner Boden gesetzt zu haben. Nur zahlen muss man – es kostet Geld. Wer aber gezahlt hat und damit Liechtensteiner Staatsbürger geworden ist, der geniesst fortan die Vorteile des Landes. Deren grösstes besteht darin, dass es seinen Staatsbürgern gestattet, ihr Geld dorthin zu bringen.

In dem Masse, wie die Steuerlast des Europäers stieg, stieg auch der Andrang nach Liechtenstein. Allerlei Unternehmungen, Industriewerke und Einzelpersonen gründeten dort eine „Holdinggesellschaft". Das Gesetz des Fürstentums verstand den Zug der Zeit und kam ihm mit zeitgemässen Paragraphen zu Hilfe. Die Zahl der zuwandernden Gesellschaften wird für 1929 auf 246 angegeben, für 1930 auf 333, für 1931 auf 579. Das dort aufgehäufte, der Versteuerung in den Heimatländern entzogenen Kapital schätzen Kenner auf 15 Milliarden Mark.

Von diesem gelobten Ländchen wussten auch die Brüder Rotter. Als ihr Theaterkonzern zusammenbrach, als Strafanzeige erstattet wurde, als die Staatsanwaltschaft Haftbefehl erliess, als die Brüder Rotter nicht zu finden waren, da erging sich die Öffentlichkeit in Vermutungen, wohin sie sich geflüchtet haben und wie weit sie auf ihrer Flucht schon gekommen sein mochten. Bis sich herausstellte: sie waren nicht weiter geflohen als bis ins Fürstentum Liechtenstein. Aber dort fühlten sie sich zu Hause und geborgen; denn dort besassen sie Staatsbürgerrecht. Das hatten sie sich schon zwei Jahre vorher gekauft. [2]

Rings um das kleine und machtlose Ländchen warteten die grossen und mächtigen Rechtsstaaten, um die Flüchtlinge vor Gericht zu stellen und, falls sie schuldig befunden werden sollten, ihrer verdienten Bestrafung zuzuführen. Aber kein Land liefert seine eigenen Staatsangehörigen aus. Die Rotters waren Liechtensteiner. Solange sie nicht ausserhalb der Grenzen des Fürstentums betroffen wurden, und solange es nach dem geschriebenen Recht ging, konnte man ihnen nichts anhaben.

Das geschriebene Recht ist mit Gewalt zerbrochen worden. Die Familie der europäischen Rechtsstaaten kann nicht dulden, dass an die Stelle des von den Staaten geübten Rechts der Gesetze das willkürliche Recht der Selbsthilfe tritt. [3] Aber darüber sollte nicht vergessen werden, dass der Plan zu dem verbrecherischen Überfall nicht hätte entstehen können ohne dieses winzige Stückchen Land, das seine formale Selbständigkeit dazu ausnutzt, um inmitten von Europa unter dem Schein des Rechts die Voraussetzungen des Rechts zu erschüttern.

 

 

 

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[1] Vossische Zeitung, 7.4.1933. Ein Exemplar des Artikel unter LI LA RF 131/409/003. Vgl. das Protestschreiben der Regierung gegen die deutsche Pressekampagne gegen Liechtenstein vom 9. April 1933 (LI LA RF 131/409/032).
[2] 1931 waren die Gebrüder Alfred Schaie und Fritz Schaie (alias Rotter) in der Gemeinde Mauren eingebürgert worden.
[3] Beim Entführungsversuch durch liechtensteinische und deutsche Nationalsozialisten am 5. April 1933 kamen Alfred und Gertrud Schaie ums Leben.