Das Österreichische Rote Kreuz bittet Maria von Haberler, sich dafür zu verwenden, dass die schweizerischen Vorschriften für die Einreise von Pflegekindern gelockert werden


Schreiben des Landesverbands Vorarlberg des Österreichischen Roten Kreuzes, gez. Kleiner, an Maria von Haberler (Abschrift) [1]

15.9.1945, Feldkirch

Sehr geehrtes Frl. von Haberler!

Zu den freundlichst übermittelten Bestimmungen über "die Hereinnahme ausländischer Kinder nach der Schweiz" [2] danke ich Ihnen verbindlichst. Zur ganzen Angelegenheit möchte ich erstens aufklärend und zweitens anfragend folgendes sagen:

Vor etwa vier Wochen wurde der Landesverband der Gesellschaft vom Österreichischen Roten Kreuz durch Herrn Dr. [Friedrich] Ritter aus Vaduz, dem Präsidenten des Liechtensteinischen Roten Kreuzes unterrichtet, dass das Land Liechtenstein 30 unterernährte, erholungsbedürftige Kinder im schulpflichtigen Alter zu einem Erholungsaufenthalt von 8 Wochen übernehmen will und das Österreichische Rote Kreuz die entsprechenden Vorbereitungen möglichst rasch treffen solle. Wir haben daraufhin durch den Vorarlberger Rundfunk (Zeitung gab es noch keine) die Bevölkerung aufgefordert, erholungsbedürftige Kinder bei den zuständigen Gesundheitsämtern untersuchen zu lassen. Von den dort zu mehreren hundert vorgestellten Kinder suchten die Amtsärzte 180 als die der Erholung am dringendsten Bedürftigen aus, aus welchen nun wir unsererseits 30 Kinder (15 Knaben und 15 Mädchen), aus jedem Kreise 10, auswählten. Hierauf besorgten wir beim französischen Gouvernement die Ausreise-Laissez-Passers, vereinbarten mit den Österreichischen Bundesbahnen den Transport nach Liechtenstein bezw. nach Buchs und warteten nun lediglich auf die Meldung des Liechtensteinischen Roten Kreuzes, an welchem Tag der Transport einzutreffen habe.

Mit welch ungeheuren Schwierigkeiten wir diese Arbeit in verhältnismässig kurzer Zeit bewältigten, dürfte sich wohl niemand eine Vorstellung machen können. Wir haben keinen Telefonverkehr; die Post unterliegt der Militärzensur. Schreiben von einem Ort in den anderen können zwei Wochen benötigen, aber auch in drei Tagen eintreffen. Daher ist die Berechnung irgend eines Termines ausgeschlossen. Alles muss persönlich erledigt werden. Die einzelnen Gemeinden, aus welchen die Schulkinder genommen werden, liegen bis zu 60 km auseinander. Der Bahnverkehr ist beschränkt und liegen einige Gemeinden weit abseits der Bahn. Zudem existiert kein Omnibusverkehr. Wir besitzen lediglich soviel Benzin, dass ich mit dem Motorrad einmal – bei der Verständigung der Kinder über den Abreisetermin – zu jeder Familie fahren kann. Die Landesregierung und der Gouverneur sind in Bregenz, das Präsidium des Roten Kreuzes in Feldkirch, Dinge, die eben bei den eben geschilderten Umständen selbst die kleinste Auskunft, Aussprache oder Erhebung zu einem schweren Problem machen.

Wenn nun das Schweizer Rote Kreuz uns, im Hinblick auf die enormen Schwierigkeiten, hinsichtlich der formellen Bestimmungen etwas entgegenkommen könnte, so wären wir bald in der Lage, die Abreise starten zu lassen. Als Erleichterung würden wir es empfinden, wenn man uns folgendes erlassen oder vereinfachen liesse:

  1. Statt nur Kinder im Alter von 6-10 Jahren auch solche bis 14 Jahre. Es befinden sich nämlich auf unserer Liste 12 Kinder zwischen 10 und 14. Wir müssten also im Falle die "allg. Bestimmungen über die Hereinnahme ausländischer Kinder (gültig für Österreich)" genauest zu berücksichtigen wären, zwölf Kinder streichen und ebensoviele neue auswählen und die Laissez-passers neu anfertigen lassen, was beim Gouvernement gewiss auf grosse Schwierigkeiten stossen würde.
  2. Erlassung des Einschreibebogens hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Familie, da solche Erhebungen nach den vorgenannten Schwierigkeiten erst nach mehreren Wochen zu bewerkstelligen sind.
  3. Abgabe der Sozialkarten (3 Stück) erst beim Transport und nicht vorausschicken 10 Tage vorher, da ich die Erhebungen erst beim Verständigen der Kinder zum Abreisetermin machen kann. Von unseren Gesundheitsämtern wurden nur soziale Bedürftige der Untersuchung unterzogen.

Eine ärztliche Untersuchung vor Abreise des Transportes war von uns aus vorgesehen und würde auch durchgeführt.

Dieses mein ganzes Schreiben fusst in der Annahme, dass die vom Schweizer Roten Kreuz bestimmte Delegation oder Kommission im Ausland das Österreichische Rote Kreuz ist, für welches ich beauftragt bin, die diesbezüglichen Agenden durchzuführen.

Sehr geehrtes Fräulein von Haberler, ich bitte Sie hiemit höflichst mit dem Schweizer Roten Kreuz, Sektion Kinderhilfe, diesbezüglich Rücksprache zu pflegen und mich von dem Ergebnis ehebaldigst wissen zu lassen.

Mit dem herzlichsten Dank im voraus und den besten Grüssen bin ich Ihr

gez. Kleiner

NB. Die von der französischen Militärregierung für die Kinder ausgestellten Ausreise-Laissez-passers verlieren am 15.10.45 ihre Gültigkeit.

Die Verständigung der Kinder benötigt 3 Tage und müssen wir daher diese Zeit der Abreise vorher genau wissen, um die Kinder rechtzeitig zu benachrichtigen.

 

 

______________

[1] LI LA RF 233/186 (a). Die Regierung übergab eine Abschrift des Schreibens am 3. Okt. 1945 der eidgenössischen Fremdenpolizei.
[2] Nicht aufgefunden.