Jos. Rheinberger schildert in einer schwülstig-romantisch verklärten "Lebensbeichte" sein ebenso inniges wie unschuldiges Verhältnis zu seiner Jugendliebe Felicia (Oktober 1852 bis Sommer 1853).


o.D. (nach 1867), o.O.
Bericht Jos. Rheinberger zuhanden seiner Frau Fanny Rheinberger

Aus meinern Leben - Wahrheit - nicht Dichtung.

October 1852

Ah! Guten Morgen! Schön, dass Sie wieder da sind, junger Herr! Wie steht's zu Hause, Alles wohl?' [1]
'Danke! Viele Grüsse. Und bei Ihnen?'
'Auch. Geben Sie Acht! Diesen Winter werden Sie bei uns nicht langweilig finden - Sie werden sehen!
'So, warum denn?'
'Nun, unser Fräulein, die jetzt bei uns wohnt - was die lustig ist - und gescheidt - und hübsch - jetzt werden Sie gerne bei uns wohnen - jeden Abend kommt sie zu uns herüber, da wird Schwarz-Peter gespielt, geplaudert, gelacht bis neun, halb zehn.'
'Nun, ich bin sehr begierig auf heut Abend.'
So empfing mich die treue Duenna, als ich mit neuem Muthe aus den herrlichen Ferien zurückkam. Im Grunde genommen interessirte mich das 'Fräulein' wenig, ich war noch zu voll von den Eindrücken der lieben Vakanzzeit, dem Wiedersehen der theuren Eignen - mit einem Wort, ich hing noch zu sehr am häuslichen Herd, zu schwer war dem jugendlichen Herzen noch der Abschied vom Heimathhause geworden, was ich aber um keinen Preis gestanden hätte. -

O gewiss, zu bemitleiden ist Jeder, der die Wonne des Wiedersehens nach längerer Trennung im holden Kindesalter nicht gefühlt; wie wichtig kommt man sich nicht vor, wenn man von den Seinigen mit etwas mehr Auszeichnung als sonst behandelt wird. Es wird der Koffer aufmerksam ausgepackt, die kleinen Geschenke vertheilt, Alles Neue aus der grossen Stadt genau betrachtet und für schön befunden. Endlich fragt Papa:
'Wie steht es mit den Schulzeugnissen!' Das ist der grosse, längst heimlich ersehnte Moment. Mit geläufigem Griffe werden sie präsentirt - drei auf einmal. Ja, schaut mich nur an, in dieser Minute wachse ich um einen halben Zoll. Papa setzt sich umständlich die Brille auf, nimmt neben dem Fenster Platz, um besser zu sehen; die Schwestern, als neugierige Evastöchter, machen einen, aber energisch vereitelten Versuch, ihm über die Schultern zu gucken. Papa räuspert sich endlich, ruft der Mama, welche mit Wäscheauspakken beschäftigt, zu, und liest dann laut vor, während der Student ein wenig, aber freudig errötend am Ofen steht. Siegel und Unterschrift als recht befunden, steckt nun Papa die Schriften zu sich, um sie im Lauf des Tags noch zehnmal wohlbehaglich zu lesen. Abends kann er sie auswendig - ich wette!

Ich übergehe die goldenen Monate August und September, es heisst in 8 Tagen wieder zur Stadt - bereits ist Abschied genommen, Mama gibt aus Versehen statt der üblichen 3 Küsse ihrer fünfe, und wendet sich weinend ab. - Papa aber verzählt sich nicht.
'Sei brav, wie letztes Jahr! Schreibe alle vier Wochen - Gott befohlen!'

Während die Pferde, von der kräftigen Hand des Bruders angefeuert, durch den Hof hinaustrotten, sehe ich, rückwärtsblickend noch Alle, Abschied winkend, das Weibervolk die Schürzen an den Augen und es rnacht Mühe, dem nebenan Sitzenden im Wagen nicht merken zu lassen, dass auch ich Jucken in den Augen bekomme.
Zwei Tage später - beim Schwarzen Peter.
Felicia mir vis à vis. Sie war acht Jahre älter als ich, ungefähr einundzwanzig, schön gewachsen, von lebhaften Gesichtszügen, heiter und gesprächig und den fremden Buben als Kind und fremd behandelnd. Das verdross mich gewaltig, das war ich nicht gewohnt, indem ich etwa drei Jahre vorher in einer Landstadt bedeutend verhätschelt wurde - das durfte nicht ungeahnt bleiben, und indem ich im Schwarzen Peter eine nie geahnte Virtuosität entwickelte, brachte ich es dahin, dass Felicia die stolze Stirne voll schwarzer Striche bekam, während ich unbemalt blieb.

Die kleine, aus sechs Personen bestehende Gesellschaft unterhielt sich lebhaft und es war schon spät, als ich von Felicia ein kurzes 'Gute Nacht' bekam, das ich noch kürzer erwiderte. Mir träumte sodann noch von dem Abschied von Hause - und die Weiber hatten schwarze Striche auf der Stirne.
Hüte dich vor den Gezeichneten! -
Vierzehn Tage später waren Felicia und ich bei jedem Schwarzen Peter bereits Verbündete und bekamen gar bald die Oberhand in jedem Spiele; waren wir auch im Gespräch kalt und förmlich, so wurden doch die Striche redlich getheilt; im Ganzen aber spielten wir nicht redlich, denn wenn der Schwarze Peter im Besitz meines rechten Nachbarn war, fühlte ich einen leisen Tritt auf meinem rechten Fusse, wenn beim Linken, so auf dem linken Fuss. Sollte ich mir ungestraft auf den Fuss treten lassen? Ich nicht! Beim Kartenwerfen war ich sehr ungeschickt. Jedesmal traf ich die Finger Felicias.
Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, voll Geist und Energie und wunderbar selbständigen Wesens. Durch eine böse Stiefmutter aus dem elterlichen Hause verbannt, lebte sie in fremdem Hause von dem Jahresgeld, welches sie aus ihrem mütterlichen Erbe zog unabhängig ihren Grillen; so erschien sie stolz und unnahbar. Doch empfand sie bald das Bedürfniss mit Leuten zu verkehren und sich offen auszusprechen, kurz, in einiger Zeit hatten wir so viel zu plaudern, dass wir nie fertig werden konnten und immer wieder einen neuen Abend herbeiwünschten.

Dabei versäumte ich meine Studien nicht, von denen sie bisher durchaus keine Notiz genommen, was mich nicht wenig verdross.
Um so mehr überraschte es mich, als Felicia mir eines Tages ganz trocken erzählte, sie hätte meine Professoren aufgesucht, um sich nach rneinem Lernen zu erkundigen. Sie sei mit dem Resultat zufrieden, sehr zufrieden. Nicht so sehr zufrieden war ich mir ihr, denn sie fing an mich zu hofmeistern - ich musste mich sorgfältiger kleiden; schrecklich: sie lehrte mich sogar, mich besser zu frisieren, meine Notenhefte mussten schön geheftet sein (das that sie aber selbst), keine Tintenflecke wurden geduldet, auch das Schneeballwerfen wurde mir verwiesen, statt über das Stiegengeländer zu klettern musste ich über die Stiege gehen, alle Unarten wurden abgewöhnt; täglich erhielt ich eine strenge Schreibstunde, meine schlechte Schrift zu verbessern, wir studirten zusammen Französisch, gingen miteinander in Theater und Concerte, zur Kirche und Besuchen usw.
Einmal, es war, wenn ich nicht irre, ein Weihnachtsabend, ersuchte sie mich zum ersten Male ihr etwas vorzuspielen; ich spielte Webers Variationen über: "Vien qua Dorina bella". Gegen Ende der Piece hörte ich sie laut weinen und fühlte mich von rückwärts umarmt und heftig auf die Stirne geküsst; obschon noch halb Kind, wusste ich nicht, wie mir geschah; denn ich war ungemein ergriffen, Felicia, die mich sonst so stolz hofmeisterte, so weich und leidenschaftlich zu sehen - noch dreimal musste ich das Thema spielen und wurde zum Danke von Küssen fast erstickt. Felicia erzählte mir, dass sie sich an diesem Abend so sehr an frühere Weihnachtsabende erinnerte, an früheres, glückliches Familienleben und sich nun zurn erstenmale so recht einsam fühle.

'Du musst nun mein Bruder sein! Nein, du bist es schon längst!'
Noch erinnere ich mich, wie ich das erste 'Du' sagte, welches mir bald geläufig wurde. Vor der Welt. 'Sie', unter uns 'Du', volle 3/4 Jahr und nie eine Verwechslung oder ein Vergessen, das sich fatal genug ausgenommen hätte. Ihr Einfluss auf mich war wirklich unbegrenzt, ebenso konnte sie keinen Tag mehr ohne meine Gesellschaft zubringen, wir waren lustig wie Kinder - oder traurig wie die Kinder und doch studirte ich damals so fleissig wie nie, denn Felicia duldete kein Versäumen - sie erinnerte auch, wenn es Zeit war, den Eltern zu schreiben, lehrte mich unter allen Verhältnissen meine Selbständigkeit zu wahren, so dass ich bald meine sämtlichen Camaraden (es waren zwar nicht Viele) unter den Pantoffel. bekam.

Anfangs Frühjahr 1853 (ich glaube, es war noch Februar) erkrankte ich ziemlich heftig. Mit heftigen Kopfschmerzen stellte sich ein Fieber ein, so dass ich bald irre redete. Felicia war untröstlich und wich nicht von meinem Krankenlager; sie pflegte mich Tag und Nacht und duldete eifersüchtig keine andere Pflege. Als es besser wurde, las sie mir Wilhelm Meister, wobei sie hofmeisternd bemerkte:
'Eigentlich sei dies Werk nicht für so junge Leute - doch mache ich eine Ausnahme.'

Mignon machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich, kaum genesen, versuchte ich zwei ihrer Lieder: 'Kennst du das Land' und 'Nur wer die Sehnsucht kennt' musikalisch wiederzugeben.

Mit der Genesung hatte ich auch die Kinderjahre abgeschüttelt und fing an reifer zu componiren. Wie vieles hatte ich Felicia zu danken - wie unermüdet hatte sie sich meiner angenommen und doch konnte ich ihr nicht dankbarer sein, als sie es mir war.

So selbständig und energisch sie in ihren Handlungen war, so war sie doch nie unweiblich, liess sie es sich doch nicht nehmen an meinem Geburtstage mir meine Lieblingsspeise zuzubereiten. Stand ihr doch die weisse Küchenschürze gar zu allerliebst.

Noch im nämlichen Frühjahr (1853) verliess Felicia unser Haus, um bei Verwandten Wohnung zu nehmen - das war ein harter Schlag für mich, denn wenn ich sie auch täglich besuchte und ganze Nachmittage dort zubrachte, so fehlte mir dagegen zu Hause Alles - sie - der es übrigens nicht viel besser ging. Mit doppeltem Eifer erfasste ich mein Studium, nur um ihr davon erzählen zu können - wie gerne hörte sie mir zu - obschon sie Alles nur halb verstand.

Nach einiger Zeit fiel es mir auf, dass Felicia selten mehr heiter wurde, obschon ihre Herzlichkeit die frühere blieb, ja sich noch steigerte. Um die Ursache dieser Veränderung befragt, weinte sie heftig und verbot mir zu fragen. Diese Verschlossenheit kränkte mich nicht wenig, waren wir doch längst gewöhnt keine Geheimnisse unter uns zu kennen, alle kleinen Tücken, jede List, Schmeicheleien, nichts blieb von mir unversucht, doch ohne Erfolg, zeigte ich mich auch gekränkt, so konnte mich ein Blick von ihr besänftigen. Eines Sonntags gingen wir statt wie gewöhnlich in den Kunstverein in den englischen Garten.
'Wir gehen heute zum letztenmale miteinander, lieber Bruder', sprach Felicia mit erzwungener Heiterkeit, 'und wenn du nicht weinst und muthig bist, so will ich nicht mehr so verschlossen sein.'

'Ich weine ja nicht, Felicia, obschon mir jede Trennung näher geht als dir, das weiss ich gewiss.' 'Wie trotzig! Ich habe dich aber so verzogen!' 'Du hast mich weder erzogen noch verzogen - ich bin kein Kind mehr, Felicia, ich werde lachen, was du mir auch zu sagen hast!'

'Das wirst du nicht' - sie hatte Recht. 'Lieber, theurer Bruder, du gehst in zwei Tagen wieder zu deinen Eltern, du glaubst unsere Trennung daure nur zwei Monate - sieh mich nicht so an - nein! Sonst kann ich nicht weiter reden - wenn du zurückkommst bin ich nicht mehr hier - weit, weit von hier.'

'Wo gehst du hin?' fragte ich mit gepresster Brust. 'Ich habe dir nie von meinen Familienverhältnissen gesprochen, habe dir verboten mich darüber zu befragen - du hast mir gefolgt, obschon es dir manchmal schwer wurde - bist eben mein lieber Bruder, das einzige, theure Wesen, das ich kenne, du bist die einzige Erinnerung, die ich aus Europa nach der neuen Welt mitnehme!'

Fast schrie ich laut auf.

'Still, sei ruhig' Dein Schmerz wird nicht lange dauern, du bist jung, deine Kunst erfüllt dich ganz - bist du erst in meinem Alter, oder etwas älter, so wirst du dein Glück im eigenen Familienkreise suchen - und finden - mich vergessen, die ich im fernen Westen täglich, stündlich an dich denken werde.' -
Wir sprachen lange nichts mehr; bei den Wasserfällen setzten wir uns auf eine Bank. Felicia war ruhiger geworden und erzählte mir, dass sie, durch Familienereignisse gezwungen, nach America müsse - dort einem Manne, den sie kaum kenne, die Hand reichen und sehr unglücklich sein werde.
'Sollten wir uns in dieser Welt wiedersehen, so bitte ich, beschwöre ich dich, bleibe mir, was du mir warst - das soll meine einzige, wenn auch schwache Hoffnung sein, die mich in der fernen Farm aufrecht erhalten soll - glaube mir, ich werde dich in allen Verhältnissen wieder kennen. Küsse mich noch einmal - Nun Lebewohl für immer.'
Wir trennten uns - wie ich den Weg nach Hause gefunden, weiss ich nicht mehr. Ich hatte Kopfschmerzen und legte mich früh nieder, nachdem ich zuvor meine Reiseeffekten gepackt hatte - ich schlief die ganze Nacht nicht, der Kopf brannte - weinen konnte ich nicht, ich musste aufstehen um nicht zu ersticken, immer sah ich nur Felicia zu Schiffe, das so liebe Gesicht dem Ufer zugewandt, auf dem ich trostlos stand. –
Früh 5 Uhr kam mein väterlicher Freund mich mit dem Wagen zur Eisenbahn abzuholen. Der Empfang zu Hause war wie sonst, nur Vater war trotz der glänzendsten Schulzeugnisse etwas strenger gegen mich. Aus neckenden Anspielungen der Geschwister erkannte ich mit Erstaunen, dass Vater schon seit Wochen durch einen böswilligen entstellenden Brief von meiner Zuneigung zu Felicia in Kenntniss gesetzt war. Ich wusste den Brief trotz seiner guten Verwahrung heimlich zu lesen - er war gut gemeint von dem Warner, aber voll Unwahrheit, wie hätte Jemand uns verstehen können. Vater erwähnte keine Silbe gegen mich, nur vor der Abreise bekam ich ein scharfes Kapitel gegen das andere Geschlecht zu hören - wäre unnötig gewesen, denn ich trug Felicia als eine Heilige in der Erinnerung.

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[1] Der Bericht beginnt mit einem Dialog zwischen Perstenfeld und Jos. Rheinberger, der Anfang Oktober 1852 aus den Ferien nach München zurückgekehrt war.