Josef G. Rheinberger schreibt seinem Bruder einen langen Brief und berichtet von Herrn Öhry.


Brief Josef G. Rheinberger an Bruder Anton
31. August 1857, München


Lieber Toni!

Gerade jetzt kommt des Vaters Brief. Du wirst so gut sein, und ihm meinen aufrichtigsten Dank für seinen Brief und das beigeschlossene Geld anzusagen, nebst meinern herzlichsten Gruss auch an die Mutter.
Da Du mir, lieber Bruder! das letzte Mal einen Brief, so gross als wie ganz Liechtenstein, geschrieben, so beantworte ich denselben mit wenigstens so viel Worten, als unser Vaterland Einwohner hat. Das beweist aber noch nicht, dass ich etwas Interessantes zu schreiben habe. Da man gebührender Weise zuerst nur von den wichtigsten Personen berichtet, so fange ich mit Öhry, wohlbestelltem ländlichen Pädagogen in und zu Vaduz, an.
Donnerstag der 27te war der in den Annalen Münchens ewig denkwürdige Tag, an welchem obgenannte hohe Personalität in hiesiger Residenz einfuhr. Nachmittags 3 Uhr besuchte Öhry meine unwürdige Behausung, bemerkend, dass zu Haus' ich nicht war. Er hinterliess meiner Hausfrau den Auftrag, den Wichtig'n, dass er Abends bestimmt wieder kommen werde zu Rheinberger, dem unglücklicherweisegarnichtzuHausegewesenseienden. Ich harrte seiner, sehnsüchtigen Blicks vom 3ten Stockwerk die Müllergenanntestrasse genauiglich musternd. Ich harrte seiner, von 5 Uhr bis 8 Uhr schlug die Glocke der nahegelegenen evangelisch=lutherischen Kirche. Doch Öhry, Erzieher der hoffnungsvoll wachsenden Jugend von Liechtensteins Hauptort, nicht erschien er, der Wortnichthaltende. Ich setzte auf sodann, entschlossenen Muthes voll, den neuen, schwarzseidenen Cylinder und wandle geflügelten Muthes dahin zu Oberpollinger's frequenter Behausung, vermuthend zu finden allort biervertilgend Öhry, den Martin.

Doch nicht zu erforschen er war. Als anderntag's ich las die Fremdenanzeige, ich ersah den gefeierten Namen, unter der Rubrik des Stachusgarten; doch Öhry, er fuhr schon auf dampfbeschwingtem Wagen Starnberg, dem ländlichen zu, um zu besuchen den wohlbepfründeten Pfarrer, welcher wohl voll des Stolzes empfangen wird den Neffen, der seines Bruders Sohn, und Martin zubenamset. Doch wenn der Tage 8 verflossen, wird Öhry kehren zurück von Seefeld nach München, und nebenbei auch besuchen mich, den dem nämlichen Lande entspross'nen. Doch nun läutet es 12 Uhr, nun wird mein Magen, der knurrende, suchen zu stillen den Appetit, welcher beunruhigt ihn. Hernach werd' ich berichten noch Wichtiges mehr.
1/2 1 Uhr
Nun hab' ich den Magen befriedigt, tauche die Feder in Tintenstrotzendes Fass und melde Dir ferner des Wichtigen. Ja, es meldet die Feder Dir, dass unpass ich war seit einigen Tag, doch mich nun besser befinde. Auch dass in München's Vorstadt Haidhausen die Cholera hat ihr' Opfer gefordert, doch hörte man nur wenig und seit 3 Wochen gar nichts mehr sprechen davon. Es war der Gefahr nur wenig dabei; indem München ja doch durch den Isarfluss getrennt war von Haidhausen.
Ich habe geschrieben der Noten sehr viel, seit ich Dich nicht gesehen, o Bruder Anton! Ich liess mir auch mit Deckel versehen der Bücher ein'ge was man im gewöhnlichen Leben "Büchereinbinden" heisst; welches ehrsame Geschäft Du, der löbliche Zunft=Meister, anitzo auch also betreibst, verschlingend des Leder's, Papier's und pappigen Kleisters.
Mir gestern sagte der Bekannten einer: Er habe gelesen im "Schwäb'schen Mercur" dass ausgeschrieben sei die Schulmeisterstelle, die fette, von Vaduz. Der betreffend' Bewerber müsse besonders die Orgeltractiren zu wissen. Aus "wem" besteht denn der neu angeworbene Chor, welcher des Sonntags erbaut die Gemeinde mit hehrem Gesang? Ertönt nicht fürder mehr des Marxer's Alleluja=Geschrei? Krächzt der Becki Vögelverscheuchende Stimm' nicht mehr in St. Florin's Räumen? Wehe, wenn das der Fall ist - nicht kann man fürder ersetzen dies kunst= und gesangsverständige Paar. Und sollte das bucklichte Muserle nun auch singen Tenor, - wer frag ich - wer kann ersetzen den Blasbalgkundigen Mann? Wer kann gleich ihm ziehen mit feinem aesthet'schen Gefühl die Stricke des blasigen Balges? Siehst Du, o Bruder? mit klarem Auge nicht den Verfall der Kunst, der tönenden, mit Gigermartischen Har = und Melodien. Doch nun genug des Jammers, welcher nicht fruchtet anjetzt. Sage dem David, dem Kanzlei=kundigen Meister der Feder, sowie auch der Tinte Beherrscher, dass mein Pass (datirt von Anfang November des Jahres eintausensachthundert und fünfzig vier -1854-) auf drei Jahre gültig ist, und das bis dahin (bis Nov: 1857) ich eines neuen Passes bedürftig bin. Wenn Du gesagt hast dieses dem David, dem Tintekundigen, benebst einem Grusse von mir, dem Notenkopftintenklexer, - so wird er schütteln sein rothgelbes Haupt, (beschwingt von borstigem Barte) und sagen wird er:"Anhiero thut Noth ein neuer Pass, auf dass ich schreib' einen solchen. Doch es pressirt mir noch nicht; es ist ja anitzo noch Zeit!"
(Abends 6 uhr.)
Nun komm ich soeben nach Haus, und schreibe noch weiter, bis dunkel es wird was jetzt in dem Herbste gar bald möglich ist. Ich habe gehört vor zwei Monden aus Adjunctens Kesslers beschnauzetem Munde, dass Herr Falk anitzo Amtschreiber geworden. Dass ihr mir nichts davon schriebet?
Du, Toni, befiehl doch dem Lisi, dass es bald mir schreibe, derweil es schon lange ist her, seit wir nicht mehr correspondirten. Auch dem Mali, dem Tonkastenspielenden, sage, dass bald es mir schreibe, was es getrieben im Toggenburg drin; und wie es gehe der Wirth=schen Familie.
(Dienstag den 1ten Sept:)
Heute von 8 bis 10 Uhr machte ich wieder den Schulmeister, lehrend Clavier zweien fleissigen Schülern, weiche, lernend schon seit Monden, bald schon kennen die Noten. Auch waren die Jungens so folgsam heut', dass die Autorität ihres Vaters in Anspruch ich nahm, welcher den Söhnlein's mit Schlägen wohl dräute. Lieber wohl Holzhacken möcht' ich, als mehr' solcher Schüler ha'n, welch ich Gequälter noch selbander quälen soll. Doch Papa und Mama, die Gnädigen, finden, dass diese zwei Söhnlein's des Talentes zur Musik wären voll, und man verschreibt der Klavierlehrer einen, welcher Klavierspielen ihnen eintrichtern soll, da man für Geld.ja Alles kann. Nicht wahr? Heute ist Feldlager der Garnison München's in Sendling, eine Stund weit von hier. Wenn ich noch Zeit mir erübrigen kann, geh ich doch hin, Manoeuvre zu sehn'. Gibt es heuer des Obstes wohl viel, des Saftigen? Birnen, Äpfel und Zwetschgen? Der Wein wird werden doch gut in Vaduz, da der sonnigen Tage wir hatten so manche in heurigem Jahr!
Anbei leg ich noch ein gedrucktes Blättchen bei, zu dessen besseren Verständnis gesagt sei, dass im Monat April in hiesiger Münchner=Zeitung gelegentlich einer Kunst=Kritik bemerket wurde, dass meine Ouverture zu Fiesko zwar sehr schön, nur etwas philisterhaft instrumentiret sei, worauf in diesem beigefügten Blättchen widersprochen wird. In folgendem (heurigen) Herbste hoffe ich schicken zu können der Recensionen viele, (welch' aber sämmtlich nur von Papier sind.) Von ausländischen Blättern erwähnten sehr ehrenvoll meines Quartettes die Leipziger, die Süddeutsche und Rheinische Musikzeitungen, wie man mir sagte, da ich selbsten nur die erstere gelesen.
(Abends 1/2 5 Uhr)
Ich werd mich beeilen, den Brief bald zu schliessen, auf das er noch heute zur Post gelange, drum kehr das Blatt itzt um! Nachdem anitzo das Blatt Du umgekehrt, und weiter zu lesen beginnst, so sei hiemit Dir gesagt, dass weiter ich nichts weiss, was des Schreibens würdig wäre.

Du schriebst mir, dass den Pföhn [1]
Du hörest durch's Gässle gehen
Und hörest Du manchmal: Klipp, klapp, klipp, klapp!
So denk: Jetzt jagt sie die Kathri
dem Handwerksburschen die Stiefel app!
Macht d' Muatar hür o viel Aepfelschnez?
Grüss mer o der Kaplan Fetz [2]!
Weil als' in der Welt sein Ende hat
So hört der Brief hier auf.
Mit Vielen Grüssen an Alle Verbleibe Ich Dein Dich Immer Liebender bruder iosepf reynperker.
Schreibe mir bald!
An Anton Rheinberger, wohllöblichen Buchbinderzunftmeister in Vaduz.

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[1] Pföhn = Föhn (mundartlich)
[2] Macht d'Muater hür... = Macht (dörrt) die Mutter heuer auch viele Apfelschnitze. Grüsse mir auch den Kaplan Fetz.