Die "Neue Münchener Zeitung" verfasste einen Bericht mit einer negativen Kritik zu Rheinbergers Kantate "Jephtas Tochter".


Zeitungsartikel "Neue Münchener Zeitung"
5. Januar 1858


Concert des Oratorienvereins

München. Der hiesige Oratorienverein entwickelt unter der Leitung des Hr. v. Perfall eine Thätigkeit, die auch in weiteren und den weitesten Kreisen bekannt zu werden verdient. Derselbe brachte im vorigen Jahre Handel's Israel in Ägypten und dessen zur Feier des Siegs bei Dettingen componirtes "Te Deum", diese beiden grossen und erhabenen Denkmäler aus einer in ihrer Art einzigen Kunstepoche, zur Aufführung, denen sich dann noch Allegri's "Miserere", mehrere kleine Tonstücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert und Mendelssohn's "Elias" anschlossen. Die diessjährige Concertsaison eröffnete der Verein vor mehreren Wochen mit Mendelssohn's "Paulus" vor einer ebenso gewählten als dicht gedrängten Zuhörerschaft, und letztere folgte dem hohen Tonwerk nach seiner ganzen Ausdehnung mit der innigsten Theilnahme, ob nun der Gesang des Paulus, wie in der Arie aus A "Gott, sei mir gnädig", in tiefinnigen und rührenden Weisen ertönte, oder ob der nun feurige Apostel in fester Zuversicht des Glaubens und in gehobener seliger Stimmung "Ich danke Dir, Gott, von ganzem Herzen ewiglich" sang, ob die herrlichen Choräle des Oratoriums in feierlichem aber gemessenem und ruhigem Gang einherschritten, oder ob sich die Chöre - "zum Preis und zur Verherrlichung des Herren Zebaoth" - in reicheren und volleren Accorden und in hehrem und majestätischem Aufbau entfalteten. Dieser Tage, am 29 Dec., wurde nun das zweite Concert des Vereins abgehalten. Obwohl dasselbe sein Werk vorbrachte, das der eigentlichen Tendenz des Oratorienvereins entsprochen hätte, so erschien dennoch das Programm, das, mit einziger Ausnahme einer "Cantate" von Jos. Rheinberger, nur kleinere Compositionen für gemischten Chor enthielt, als ein inhaltsvolles und anziehendes. Während ein Weihnachtschoral aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts von W. Prätorius durch seine ebenso eigenthümliche als kunstvolle und klare Harmonisirung von grosser Wirkung sein musste, machte sich eine Composition von Haydn (der Greis) als eine wahrhaft weihevolle Gabe der Muse geltend, und zeigte, wie so viele andere Tonstücke. des Meisters, dass dieser, namentlich auch in kleinerem Rahmen und mit den unschuldigsten fast harmlosen Mitteln so Grosses und Herzgewinnendes zu schaffen im Stande war. Zwei Nummern von Mendelssohn "die Bäume grünen überall" und "Saatengrün, Veilchenduft" vertraten in vorzüglicher Weise den fein und zart fühlenden Autor mit seinen innigen und anmuthsvollen Weisen und den gerundeten und geglätteten Perioden, während das Herbstlied des Componisten (Text von Lenau) weniger glücklich und theilweise selbst mühsam erfunden schien, und hiemit im Zusammenhang nach Aussen an etwas schwerfälliger Bewegung und unfertiger Gliederung und Bildung litt. Eine balladenartige Composition und ein harmonisirtes Volkslied von Julius Maier wiesen mehrere rhythmisch und harmonisch glückliche Stellen auf, ohne sich im Ganzen zu der Linie des Bedeutenderen zu erheben.
Was kann man Ihnen schliesslich bei dem besten und aufrichtigsten Willen über die "Cantate" "Jephta's Tochter", ein Novum von Jos. Rheinberger, schreiben? Einsender kannte einen Mann, der bei einer hohen allgemeinen Bildung eine wahrhaft seltene musikalische besass. Da er nun mit letzterer eine sehr glückliche Erfindung verband, so wurde gar oft die Frage an ihn gerichtet, warum er nicht componire. Die Antwort war dann regelmässig die Gegenfrage: Warum sollte ich componiren, da uns in so reicher Fülle das Grösste und Höchste vorliegt, das selbst von den Besten unserer Zeit nicht einmal annähernd erreicht werden kann, und das obendrein der musikalischen wie der nichtmusikalischen Welt nur zum allerkleinsten Theile bekannt wird? Man braucht nun mit dieser fragenden Antwort keineswegs einverstanden zu sein und kann doch die in derselben eingeschlossene Wahrheit erkennen. Bei der förmlichen Componirwuth aber, die jetzt alle Welt bis zu dem letzten Geiger an der ersten Violine ergriffen hat und immer mehr ergreift, drängt sich einem unwillkürlich jene treffende Stelle aus Cicero's Briefen an den Atticus auf, wo jener der vortrefflichem Werke des Dikäarchos gedenkt, und dann im Hinblick auf die schriftstellerischen Versuche eines gewissen Herodes sagt: Herodes, si homo esset, eum potius legeret, quam unam literam scriberet (Zu deutsch: Wenn Herodes anders Menschenverstand hätte, würde er lhn (den Dikäarchos) lieber lesen, als einen Buchstaben schreiben. Im weitern Verlauf sagt dann der Unterdrücker der catilinarischen Verschwörung und der gefeierte "pater patriae", dass er eher eine Verschwörung anzetteln als das Geschreibsel des Herodes zu Ende lesen wolle.) Nun weiss Einsender den Componisten von "Jephta's Tochter" sehr wohl von der Legion der durchaus unfähigen und unberufenen "Autoren zu unterscheiden, und anerkennt namentlich den Fleiss und die rastlose Strebsamkeit, wodurch sich der junge Mann auf eine theoretische Höhe geschwungen, der man in unseren Tagen nicht allzu häufig begegnet. Denn etliche der allerneusten Componisten sind urplötzlich so "genial" geworden, dass dieselben vor purem Genie gar nichts mehr lernen zu müssen vermeinen, und einen ungeheuren Rückschritt und einen vollständigen Barbarismus in der Kunst des Satzes für Fortschritt auszugeben sich herausnehmen. Aber das theoretische Bewusstsein und die äussere Kunst reicht noch nicht zur Schöpfung eines Tonwerks aus. Die Formen, wie kunstvoll sie immer sein mögen, müssen innerlich belebt werden, wenn sie eben nicht todte Formen bleiben sollen. Hrn. Rheinberger ist nur eine bescheidene Erfindung zugemessen, und jedenfalls hat er in einem Vorwurf, wie ihn der biblische Stoff von Jephta und dessen Tochter bietet, weit über sein Vermögen hinausgegriffen. Von der inneren Grösse und Weihe, namentlich von der Kraft und Tiefe der Melodieen, die der Stoff erfordert hätte, findet sich in der ganzen "Cantate" kaum eine Ader. Vielmehr bewegt sich. alles in unbedeutenden und unschuldigenPhrasen, und die Begleitung erscheint dabei fast fortwährend als eine geradezu unwürdige. Einige Arien, in denen der Componist eine möglichste Innigkeit anstrebte, schlagen in hohem Grade in das Sentimentale und Süssliche über. Sieht man nun aber von der Hauptsache ab, nämlich davon, dass die productive Kraft Rh. bei weitem ihres Stoffes nicht mächtig werden konnte, so bemerkt man noch ferner bei der inhaltlich unzureichenden und theilweise verfehlten Musik, dass letztere auch in ihrer Art nur selten zu einer entschiedenen und bestimmten Ausbildung gelangt. Verwischt und undeutlich in ihrer Haltung, lehnt sie sich denn auch, im.unzertrennlichen Zusammenhange mit ihrer innern Unselbständigkeit, bald an Mendelssohn an, bald versucht sie wieder auf eigenen Füssen zu stehen, was ihr doch gar nicht gelingen will. Es würde unschwer sein aus den einzelnen Nummern der "Cantate" reichliche Beispiele zu dem Gesagten zu citiren. Wenn darauf gleich wohl verzichtet wird, so geschieht es nicht aus Furcht vor dem Worte Lessing's "das man (durch nähere Erörterungen) dem Leser oft die schönsten Stellen, wenn Gott will, sehr deutlich, aber auch trefflich frostig mache", sondern in der Ueberzeugung, dass die "Cantate" nach ihrer ganzen Beschaffenheit auf eine nähere Zergliederung keinen Anspruch machen kann.

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