Josef G. Rheinberger berichtet seinen Eltern, dass seine wahre Erfüllung das Komponieren ist und alle anderen musikalischen Tätigkeiten nur dem Broterwerb dienen.


Brief Josef G. Rheinberger an seine Eltern
6. November 1858, München


Theuerste Eltern!
Indem ich Sie wegen meinem längeren Stillschweigen um Verzeihung bitte, kann ich doch nicht umhin, zu bemerken, dass nur der Mangel freier Zeit und mittheilenswerther Nachrichten es war, welcher diessmal die Absendung meines monatlichen Briefes um eine Woche verzögerte; jedoch hoffe ich, dass Sie, Theuerste Eltern, desshalb um mich nicht in Sorge gewesen sein werden, da es ja schon öfter vorkam, da sich meine Briefe, als die eines langweiligen Briefschreibers um einige Tage verspäteten. Mein Leben in diesern Winter ist wieder einförmig. Unter Tags gebe ich meinen Schülern Unterricht und "Kib" [1] (nur keine Prügel, denn das ist leider aus der Mode) und Abends, wenn ich rnüd und abgespannt bin, setz ich mich zum Cornponiren nieder, wenn nicht Concerte oder Einladungen mich daran hindern. So vergeht ein Tag wie der andere, nur im Nachmittag spiele ich hie und da eine Schachpartie zur Erholung. Mein stellvertetender Organist (L. Perstenfeld) hatte während meiner Abwesenheit in der letzteren Zeit aus Mangel an Orgelspiel- Fähigkeiten auch seinerseits einen Stellvertreter gehabt, was ich erst durch eine, mir von Letzterem in den vorigen Tagen zugesandten Rechnung für so und so viel geleistete Organistendienste erfuhr. So hatte ich demnach das Vergnügen, zwei Stellvertreter bezahlen zu dürfen. Gegenwärtig ist Allerseelenoctav [2] - da habe ich alle Tage früh Requiem und Nachmittags Litanei. Die dadurch gestörten Stunden muss ich natürlich nachholen, und dadurch habe ich so viel zu thun, dass ich kaum zum Mittagessen Zeit finde. Dazu schneit es seit drei Tagen ununterbrochen fort, so dass der Schnee zwei Fuss tief auf der Strasse liegt. Da möchte einem das Herumlaufen wohl bekommen. Seit anderthalb Wochen ist es schon so kalt, dass der Preis für ein Klafter Buchenholz auf 18 fl gestiegen ist.
Neues weiss ich sonst nichts.
Tonis Brief habe ich vorgestern (Donnerstag) erhalten, und aus seinem lustigen Tone errathen, dass zu Hause alles gut stehen muss. Nur auf den Suser ist der Toni schlecht zu sprechen.

Dem David werde ich den nächsten Monat schreiben, und dem Matscherle auch.

Wie geht es Ihnen, Theuerster Vater? Ist der Winter zu Hause auch so streng?
Wie geht es mit der Vaduzer Real=Schule [3]?
Unterdessen verbleibe ich mit vielen 1000 Grüssen an die liebe Mutter und Alle, Theuerster Vater! Ihr dankbarster Sohn
G.J. Rheinberger.
München, 6.11.58.
Abends 10 Uhr.

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[1] "Kib" = Schelte
[2] Allerseelenoctav = In der Woche nach Allerseelen (2. November) wurden täglich Messen für die Verstorbenen gelesen.
[3] Vaduzer Real-Schule = Durch eine Stiftung von 20 000 fl hatte der Arzt Dr. J.L.Grass, Sohn des "Chirurgen" Grass (vgl. S.3/Z.37), die Schaffung einer Landesrealschule ermöglicht. Am 8. Oktober 1858 war die erste Aufnahmeprüfung, die 21 von 22 Kandidaten bestanden.