Schafhäutl lobt seinen Schützling Josef G. Rheinberger in vollen Zügen und lädt ihn ins Theater ein. Besonders sein musikalisches Gedächtnis ist bewundernswert und er ist ein guter Mensch.


Brief Schafhäutl an Johann Peter Rheinberger


München, am 22ten Juli 1853
Wohlgeborener, verehrter Herr Rentmeister!

Ich hörte öfters viel des Lobes über das hohe musikalische Talent Ihres mir später so lieb gewordenen Sohnes; aber erst durch eine Inspection u. Prüfung ex officio an unserem Conservatorium lernte ich ihn näher kennen. Er ragte durch Physiognomie und Haltung so weit über seine übrigen Mitschüler hervor, dass ich beim ersten Anblick zu meinem Nachbar sagte: 'Das muss unser Rheinberger seyn'. Ich schrieb ihm bei der Prüfung ein Thema auf, das er auf der Orgel auszuführen hatte, und er that dies mit so viel Gewandtheit, dass alle Commissionsmitglieder in Erstaunen geriethen. Da ich seine übrigen Verhältnisse nicht näher kannte, wollte ich ihm ein Zweiguldenstück als Andenken geben (ein Experiment, das mir gewiss bei keinem seiner Mitschüler miss- glückt wäre); allein er war nicht zu bewegen, dasselbe anzunehmen, und dieser Zug machte mir den Knaben noch von anderer Seite her interessant.

Bald nach der Prüfung kam er mit einem seiner Mitschüler, der mich schon früher kannte, und der ihn wahrscheinlich dazu ermunterte, in meine Wohnung, um mir zu zeigen, dass er mehr in musikalischer Hinsicht zu leisten verstünde, als er während der Prüfung zu zeigen vermochte. Ich setzte ihn nun ans Clavier und beschäftigte ihn da zwei Stunden lang. Ich bemerkte da noch mehr, dass mein junger Freund in Hinsicht auf musikalische Begabung eine ausserordentliche Erscheinung sey; ich lud ihn deshalb ein, mich öfters zu besuchen, indem ich ihm zugleich versprach, ihn, wenn eine klassische Oper gegeben würde, ins Theater zu führen, da bei seiner so weit gediehenen Vorbildung das Anhören klassischer Meisterwerke das einzige und grösste Mittel zur Ausbildung und Vollendung ist.
Allein seine Mischung von Schüchternheit und Zartgefühl liess ihn auch von dieser Einladung keinen Gebrauch machen, sodass ich ihm endlich durch seinen mir bekannten Mitschüler ein Theaterbillet sandte und ihn zu Tische lud. Wir fuhren des Nachmittags spazieren - und damit lernte ich ihn auch von der Seite seines Herzens kennen, die für mich nicht minder anziehend war als die seines Geistes.
Der Knabe hat wirklich in seinem so zarten Alter in musikalischer Hinsicht Schwierigkeiten überwunden, die mancher sonst gute Musiker während seines ganzen Lebens nicht zu besiegen lernt; dabei hat er ein ungeheures musikalisches Gedächtnis und das feinste Gefühl für höhere musikalische Schönheit, sodass es gar keine Schwierigkeiten macht, ihn in die tieferen Tiefen musikalischer Schöpfungen einzuführen, ja ich kann dabei eine Sprache führen, deren ich mich gewöhnlich nur im Umgange mit gereiften musikalischen Männern bedienen kann. Er ist für seine Jahre ausserordentlich gebildet, richtig denkend und schliessend, liest gerne, hat schon sehr viel gelesen - kurz, er würde, wenn er studiert hätte, ein ebenso vorzüglicher Student geworden seyn; dabei ist er so gut erzogen, so liebenswürdig, so gutmüthig im Umgange, so bescheiden, dass ich ihn mit der vollsten Wahrheit das begabteste liebenswürdigste Kind nennen kann, das mir während meines langen Lebens vorgekommen ist.
Bei all dieser hervorragenden geistigen Entwicklung ist er doch immer noch ein fröhlicher vierzehnjähriger Knabe, er läuft und rollt mit seinen Kameraden im Grase herum und unterscheidet sich von ihnen nur dadurch, dass er auch da starker, tüchtiger und gewandter ist, als sie. Dabei ist er noch so unverdorben, dass ich bei mehreren seiner naiven Fragen im Don Juan achthaben musste, einer passenden Antwort halber nicht in Verlegenheit zu gerathen. Leider ist unser Theater nichts weniger als das, was es seyn sollte, eine Schule der Sitten, die, wie Shakespeare sagt, gleichsam der Natur den Spiegel vorhält, der Tugend ihre eigenen Züge zeigt und der Heuchelei die Maske abzieht. Gerade unsere grössten unsterblichen Opern sind in Hinsicht auf den Text voll Liederlichkeit und Leichtfertigkeit; ja es bedurfte des grossen musikalisch unschuldigen Mozarts, um aus dem giftigen Texte des Beaumarchais die unsterbliche Oper 'Figaros Hochzeit' zu machen.
Indessen man muss sich eben auf die Fügung des Himmels verlassen. Jedes Kind scheint seinen eigenen schützenden Genius zu haben, und Ihr Sohn ist zwei Jahre in München gewesen als zartes Kind ohne eigentlichen Freund, ohne Rath und Helfer, und zwar in einer Anstalt, die bisher nichts weniger als geeignet war, dem Zögling hohe Beispiele von Sittlichkeit vorzuhalten - der Himmel wird ihn auch ferner bewahren und so wollen wir der frohen Überzeugung leben, dass er nicht nur ein grosser Musiker, sondern auch, worauf denn zuletzt doch alles ankömmt, ein guter Mensch werde und bleibe.
Und somit empfehle ich mich Ihnen, indem ich Sie noch bitte, unsern lieben Jungen in meinem Namen zu küssen
und bleibe
Ihr
ergebenster Freund Schafhäutl.

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