Schafhäutl beginnt seinen Brief an Rheinberger mit einer Arie des Jakob aus Méhuls "Josef in Ägypten". Schafhäutl vermisst seinen Schützling und hofft ihn bald wieder zu sehen. Er beschreibt ein Musikstück genauer.


Brief Schafhäutl an Josef G. Rheinberger


München am 16ten August 1853
Mein lieber Joseph!

[Notenbeispiel]

O mon Jo - seph chèr en - fant de mon coeur!

Die Hälfte des Zeitraumes, der Dich von mir trennte, ist nun vorüber, und Du glaubst nicht, wie sehr ich wünsche, dass auch die zweite Hälfte vorüber seyn möchte, um wieder einmal in Dein liebes, freundliches Auge schauen zu können. Natürlich schreibst Du mir noch öfter und zuletzt genau den Tag, an welchem Du in München eintreffen willst und musst. Wenn nicht unübersteigliche Hindernisse in den Weg treten, nehme ich dann meinen Weg aus unserem Bayerischen Gebirge über Bregenz oder Feldkirch nach Vaduz und nehme Dich da eigenhändig in Empfang. Man hat mich nämlich zum Commissionsmitgliede der grossen Zollvereins-Industrieausstellung gemacht, die im Jahre 1853 in München stattfinden wird, und da blühen mir denn Plagen, Arbeit, Verdruss und andere dergleichen angenehme Dinge im Vollauf.

Ich bin bereits 14 Tage von Morgens 7 Uhr bis Abends 6 Uhr in meiner Uniform eingezwängt gesessen und habe die Endprüfungen unserer polytechnischen Schule geleitet; jetzt nach Beendigung dieser lästigen Arbeit drohen mir wieder neue Commissionssitzungen der künftigen Industrieausstellung halber. Durch zwei bin ich bereits glücklich gekommen; heute Abend ist die dritte. Wenn ich mich jedoch ein Bischen los machen kann, gehe ich ins Gebirge und gegen den 15. September zu mit August Böhm nach Vaduz, d.h. zu Dir, lieber Junge!
Musikalisch Neues gab es während Deiner Abwesenheit nichts; Du hast also noch nichts versäumt. Wir hatten hier unsern gewöhnlichen Jahrmarkt, der viel Spektakel machte aber auch nichts Neues oder nur wenigstens Sehenswürdiges gebracht hat. Auch er ist vorüber und nur noch einige Buden mit Schaustücken, ein Wachsfigurencabinet und der Seiltänzer K... von Wien sind zurückgeblieben. Deprosse habe ich wenig gesehen. So viel ich erfuhr studirt er Contrapunct bei Pentenrieder, namentlich die fünf Gattungen des zweistimmigen strengen Satzes nach Albrechtsberger, zu welchem ihr im Conservatorium noch nicht gekommen seid, da Mayer in umgekehrter Ordnung anfing, nämlich mit dem 4stimmigen strengen Satze, während die alten Contrapunctisten mit dem zweistimmigen anfangen.
Dass Du in Oulibicheff manches Einseitige finden würdest, habe ich Dir ja vorausgesagt; es verhält sich auch da so wie mit allen Dingen, die von Menschen gemacht sind; gerade das Quintett [1], welches nach der gewöhnlichen Numerierung der Clavierauszüge 11 hat, enthält einige der allerreizendsten Partien, die gerade wieder darthun, welchen ungemeinen Zauber die alleralltäglichsten Accordfolgen ausüben können, wenn sie in einen originellen musikalischen Gedanken aufgelöst werden. Darin, in dieser Erfindung eines musikalischen Gedankens liegt das, was ein Musikstück zum Kunstwerk macht und dem Werke selbst wie dem Tondichter seines Namens Unsterblichkeit sichert.
Stelle Dir vor: im ersten Takte der G-dur Accord, dann in der zweiten Hälfte C-dur, im zweiten Tacte wieder G-dur, im 3ten D-dur, wozu sich im letzten Viertel die frei angeschlagene None geseilt, im 5ten wieder D-dur und G-dur und so weiter. Vergleiche nun im Quintett Nro. 11 den 113. bis zum 130. Tacte, und Du wirst sehen, welch reizendes melodisches Gemälde Mozart über diese Accorde gestellt hat, Accorde welche von allen Organisten legionenmal gegriffen worden sind und noch gegriffen werden:

[Notenbeispiel]

Wir müs - - sen sie mit Schaam ver-las - sen

[Notenbeispiel]

6              9

4

Welch unbeschreiblich reizende Wirkung macht hier die frei als Vorschlag angeschlagene None. Wie steigt der Effect mit der musikalischen Bewegung im 120. Takte, obwohl wieder der G-dur Accord, im 122. & 23. der Septaccord aus G-dur, im 124. Tacte G-dur u.s.w. nacheinander folgen. Welch nur alltäglich-gemeine Folge! und doch, wie unbeschreiblich schön ist die Wirkung, wie hier Papageno und Tamina und die 3 Damen - jene: Sie müssen uns mit Scham verlassen - diese: Wir müssen sie mit Scham verlassen - in stetem Wechsel zusammen singen u. dergl.
Dass Du zu Hause allmählich etwas Langweil empfindest, ist mir sehr begreiflich, da Du aus Deinem gewöhnlichen Leben und Treiben in musikalischer Hinsicht herausgerissen bist, und etwa auch der Lehrer oder höchstens noch der Herr Pfarrer oder einer seiner Kapläne sich ins Reich der Töne versteigt, in dessen grössten Tiefen oder Höhen noch überdies auch von den Fachgenossen sich nur wenige gern länger verweilen.
Dennoch hast Du Etwas in Deinem heimischen Vaduz, was Du sonst nirgends so wiederfinden wirst, Du bist am Herzen und in den Armen Deiner Eltern. Sie halten Dich mit einer Liebe, die sich unter allen Wechselfällen des Lebens nie ändert, und die auf Erden höchstens mit dem Tode aufhört. Darum freue Dich des Glücks, Deine Liebsten noch so wohl und frisch zu geniessen und ihnen so nahe zu seyn so recht von ganzem Herzen und kehre dann wieder frisch, kräftig und zur Arbeit gerüstet zu uns nach München zurück.-
Dass Du auch auf einer Schweizer Reise begriffen warst, dachte ich mir wohl, da Du mir schon von ähnlichen früheren Reisen erzähltest, und auch nach unserer Trennung im Sinne hattest, durch die Schweiz nach Hause zurückzukehren.
Bei einem technischen Gutachten bei unserem hiesigen Magistrate oder eigentlich schon früher habe ich nun noch die Bekanntschaft Deines Hausherrn gemacht. Er begegnete mir gerade an der Ecke der Strasse, die von dem St. Peterskirchhofe nach dem Obstmarkt hinunter führt. Er sprach sogleich von Dir, und als ich ihn dabei sehr befremdet ansah, gab er sich mir als Deinen Hausherrn zu erkennen.
Bisher sind wir noch jeden Feiertag in der Menterschwaige gewesen und es hat uns dabei nur der bekannte Rheinberger gefehlt.
Du hast mir kein Wörtchen geschrieben, wie Du mit meiner Handschrift zurecht gekommen bist - hast Du meinen Brief vollständig entziffert, oder hast Du Vieles dabei als unenträthselbar überhüpfen müssen?
Der junge und alte Böhm und General Salis Soglio senden Dir die freundlichsten Grüsse. Grüsse mir dagegen auch recht freundlich Deine lieben Eltern und lass bald wieder Etwas von Dir hören.
Indem ich mich auf den Augenblick freue, in dem ich Dich wieder in meine Arme schliessen werde,
küsse ich Dich im Geiste und bin
Dein
alter Freund Schafhäutl.

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[1] Quintett=Quintett (Drei Damen, Tamino, Papageno) Nr. 11 (nach heutiger Zählung Nr. 12) aus der "Zauberflöte". Ouhibicheff, Band 3, S. 398ff.