J. G. Rheinberger berichtet seinem Bruder David Rheinberger von seiner Oberitalienreise


Brief von Josef Rheinberger an David Rheinberger:

 

Mailand, 6.9.1874 

Mein lieber David!

ehrenfester, fürsichtiger und frumber Bruder!

Da ich Dir in meinem ganzen Leben (Das thut volle 35 Jahre) noch keinen Brief von Mailand (Milan heissens die Welschen) aus geschrieben habe, so geschieht das nun hiemit in allem Vorbedacht.

Ein wohlweiser Dichter, Claudius der "Wandsbecker" sang vor bald 100 Jahren: "wenn Einer eine Reise thät" usw. darum thät ich auch für heuer das Reisen wählen, nahm meinen Stock und Hut und schlug den Weg gen Welschland ein, über den sonnigen Brenner, bei dem konzilsberühmten Trient vorüber, hinten bei der Veroneser Clause (wo weiland Otto von Wittelsbach die Welschen so ins Gebet nahm) herum ins italienische Etschland, so man zur Nibelungenzeit "Bern" nannte, d.h. Verona. Die romantische Stadt Romeos und Julias ist bei Weitem charakteristischer als Mailand, das modernste universale Grossstadt ist; wenn Einer in Verona fünf Schritte auf der Strasse macht, ohne dreimal angebettelt zu werden, so soll man diesen Mann als ein Phänomen bewundern – man könnte alle Tage einen Centner Kupfer loswerden. Auf weit elegantere Art aber könnte man in Mailand im Hotel Cavour, vor welchem ich Freund und Feind warne, dieselbe Gewichtsmasse Silber los werden, weshalb wir, meine tapfere Gefährtin und ich, daselbst schon nach einer Nacht Reisaus nahmen, uns in das Hotel S. Marco flüchteten, wo uns ein Wirth, Names Conrad im anheimelnden Churer-Deutsch ansprach; im dritten Stock genannten Haus befindet sich die behagliche Zelle, von welcher aus dieser Schreibebrief seinen Flug gen Vaduz beginnt.

Die Schönste in Verona ist die Gegend, und dabei wieder der Giardino Giusti mit der Aussicht auf die Felder von Santa Lucia, Somma Campagna und Custozza, was eine eigene Stimmung hervorruft. Mailand hingegen liegt vollständig in der lombardischen Ebene, aus welcher sich der Dom wie ein Eisgletscher hervorhebt. Letzterer ist über alle Beschreibung und lässt Alles, was ich in dieser Art gesehen, weit hinter sich. Von der Höhe des Daches aus hat man einen fast unbegrenzten Fernblick, zugleich natürlich auch ein unvergleichliches Panorama der Stadt selbst. Nach Tisch besuchten wir heute die Pinacoteca, die nebst den berühmtesten und schönsten alten Bildern noch eine moderne Exposition enthielt, die uns aber einen weniger günstigen Eindruck der neuitalienischen Malerei machte. Sodann besuchten wir das ehemalige Refektorium mit dem weltberühmten Abendmahl Leonardo da Vincis, das in seiner jetzigen, verwitterten Gestalt noch einen tiefen Eindruck zu machen vermag.

Wir gehen von hier nach Bologna, Florenz und Venedig, um gegen Ende September über den Brenner zurückzukehren. Bisher hat mir Italien sehr gut gefallen, auch von den andern genannten Städten verspreche ich mir sehr viel. Mein Frau spricht italienisch wie eine Eingeborene und das hilft denn doch über Vieles hinweg.

 

Wie hat dir Dein Aufenthalt in Disentis bekommen? Es muss Dich doch gefreut haben, nach circa 34 Jahren das alte Nest wieder zu sehen. Wenn Du mir allenfalls nach Italien noch schreiben willst, so merke Dir, dass ich post restant - Briefe (mit der Bemerkung: "ferma in posta") vom 13. - 18. in Florenz, oder vom 19. - 23. in Venedig bekommen kann.

Grüss mir Maly und Peter's Alle; lebewohl und bleibe gesund. Meine Frau schliesst sich meinen Grüssen an. Dein alter Bruder Kurt.

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