Josef Rheinberger erzählt von seiner ersten Gerichtssitzung und seine gesellschaftlichen Ansichten und sein Leben in München


Josef Rheinberger, München, 30. Januar 1879

 

Vorgestern war ich zum erstenmal als Zeuge in einer öffentl. Gerichtssitzung geladen. Es hatte nämlich ein junger, mir unbekannter Mensch unter andern Schwindeleien auch durch Fälschung von Briefen auf meinen Namen Waaren von 4 Kaufleuten erhoben. Da mir um Neujahr nun die Rechnungen zugestellt wurden, kam der Betrug zwar auf, des Thäters wurde man aber erst vor wenigen Tagen habhaft. Der talentvolle junge Mann, der mit meinem Namen unterzeichnete Briefe so flott geschrieben, bekam 1 1/2 Jahr "Einsamkeit" verordnet.- Die schlechten Zeiten machen sich eben in jeder Art bemerklich, besonders darin, dass man viele schlecht gekleidete, arbeitslose junge Leute sieht; sodann eine Art von Gaunerthum, die man früher hier nicht kannte, doch ist das wohl mehr Folge des Grosswerdens der Stadt. Nur die Juden gedeihen und vermehren sich, als müsse aus Isar-Athen ein Isar-Jerusalem werden; man mag hingehen wo man will, überall hört man "mauscheln". Davon wisst Ihr in Vaduz halt doch noch nichts; um so eine Krummnase zu sehen, müsst Ihr bis nach Hohenembs [1] fahren - hier hat man's billiger.-

So ungefähr alle 4 Wochen ist bei uns grosser Musiksonntagnachmittag; wir haben da viele Gäste; auch der Hr. Nuntius Msgnor. Masella, ein sehr liebenswürdiger Mann, war schon zweimal da. Es wird da sehr fein concertmässig musizirt. Die Gäste werden nur mit Cafe bewirthet, der aber so vortrefflich bereitet ist, dass man in der Stadt sagt: bei Rheinberger hört man die beste Musik in München und - trinkt den besten Cafe dazu, was besonders meiner Frau viel Spass machte. - Habt Ihr auch so viel Nebel? Wir wissen kaum mehr wie die Sonne aussieht. Im lOOjährigen Kalender steht: Nebel im Januar gibt viel Pestilenz; dazu kommt, dass heuer die ganze Faschingszeit hindurch (wie alle 7 Jahr) der öffentl. Schäfflertanz zur Erinnerung an die grosse Pest im Jahre 1517 stattfindet - so kommt man aus dem Memento mori nicht hinaus. -

Nun adieu! Wir sind vor der Hand noch wohlgemuth. /…/

Dein Dich lieb. Bruder Josef Rheinberger.

Ware doch jammerschad, wenn die Schlosswirtschaft aufhörte [2]! Dagegen sollte man wühlen /An dieser Stelle Textlücke/.

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[1] Die vorarlbergerische Ortschaft Hohenems besass bis 1938 eine grosse Judengemeinde mit Synagoge und einem eigenen Friedhof
[2] Nachdem schon früher eine Art Ausschank bestanden hatte, war von 1856-1896 in einigen Räumen des Schlosse Vaduz eine Gastwirtschaft errichtet.