Rheinberger erinnert sich an die schönen Tage in Kreuth und schickt ein Bild von sich.


München, d. 21. 8. 00.

Sehr verehrte Freundin!

Da das Traumleben in Kreuth nun zu Ende ist und ich als gewissenhafter Patient meine sieben Wochen Landluft genossen, mache ich von Ihrer liebenswürdigen Erlaubniss Gebrauch, Ihnen von München aus ein Lebenszeichen zu übersenden. Aber erwarten Sie keinen interessanten Brief von mir - ich finde es viel gemüthlicher, zwanglos zu plaudern - und so habe ich nun das persönliche Kommando über meinen Hausstand (2 Dienstboten, 1 Hund Namens Timm und 1 Zeisig) wieder übernommen. Rückblickend auf die vergangenen schönen Tage in Kreuth kann ich dieselben wohl eine glückliche Ferienzeit nennen; vor mir aber habe ich künstlerische Tätigkeit, die, seit in den letzten Jahren Alles, was ich liebte weggestorben, mir Ersatz hierfür bieten soll. Und in der That: in Hinsicht der Kunst dient eine gewisse Vereinsamung zur Vertiefung der Ideen, also hier der musikalischen Gebilde - wenigstens glaube ich es gerne. Während des Schaffens fühlt man sich meist glücklich, aber dies hält nicht immer nach: denn glaubt man auch sein Bestes gegeben zu haben, so stellt sich doch früher oder später eine unerbittliche Selbstkritik ein und es fallen gar manche Illusionen; aber auch die echten Herzenstöne, an denen die Musik gottlob so reich ist, heben sich um so kräftiger hervor und dies gewährt wahre und dauernde Befriedigung. Warum schreibe ich Ihnen dies Alles? ich weiss es selber nicht und plaudere eben so in den Tag hinein.

Die letzten Tage in Kreuth waren ziemlich unerquicklich - immer vornehmere Leute und desto plattere Konversation, viel vanity fair, (Haben Sie das gleichnamige prächtige Buch von Thackeray[1] gelesen?), und keine Spur von Gemüth oder Herz - das war die Signatur bei Tisch. Ich sehnte mich nach meinem lieben, einsamen Münchner Heim, das ich seit 34 Jahren nicht gewechselt habe. - Um nun endlich zum Schluss meines langen Briefes zu kommen, füge ich die andere Hälfte des kleinen Liedes bei; wenn ich auch noch mein Konterfei beilege, so geschieht dies nur, das Ihrige zu erbitten, für welches in meinem kleinen Erinnerungsalbum ein Plätzchen frei wäre.

Ihren hochverehrten Eltern herzliche Grüsse.
Mit der Versicherung treuer Freundschaft,
Verehrtestes Fräulein!
Ihr ganz ergebener
Jos. Rheinberger

Haben Sie die Postkarte vom 20. Aug. aus Kreuth nach Berlin erhalten?
Wenn nicht, so ist der Verlust nicht gross.

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[1] Thackeray= William Makepeace Thackeray (1811-1863), englischer Schriftsteller, schrieb 1848 sein Hauptwerk «Vanity Fair» («Jahrmarkt der Eitelkeiten»), einen «Roman ohne Helden», in welchem die nach Thackeray nur scheinbar anständige englische Gesellschaft jener Zeit als egoistisch entlarvt wird.