Rheinberger über Martin Greifs Gedicht "Trüber Blick", Balladen, die Tragik der Kompositionen, den Tod seiner Gemahlin Fanny...


München d. 31. 10.00.

Meine theure Freundin!

Dichterurtheil! Als Martin Greif seine Gedichte Geibel vorlegte, sagte dieser; er solle sie in's Feuer werfen, sie seien ganz talentlos. Heyse drückte sich noch verächtlicher aus. Während heut zu Tage der berühmte Kulturhistoriker Victor Hehn ihm den Nachruhm eines Jahrhunderts prophezeit! Da soll nun Einer wissen, woran er ist! Ich halte diesen Dichter sehr hoch; und gar Viele nennen ihn mit mir den bedeutendsten Lyriker seit Uhland. Die bewundernswerthe, vielsagende Kürze lässt ihn sogar häufig mit Goethe verglichen werden. Seine tiefgründende Stimmung, die den schwülen, faunischen Realismus der effekthaschenden Modernen vornehm ignoriert und verachtet, macht ihn mir besonders lieb.
Man lese:

"Trüber Blick"
"Wie mich oft so tief erschreckt
Schon der Stundenschlag!
Jedes Abendroth bedeckt
Einen todten Tag.
Jeder nahm mit sich dahin
Etwas unverhofft
Was ich morgens sah erblühn
Welkte Abends oft!"

Kann man eine schwermüthige Stimmung schöner und tiefer ausdrücken? Ebenso ergreifend ist für mich: "Der Zweifler". Diese knappen zweizeiligen Strophen wirken brennend auf ein poetisches Gemüth! (Ich habe M. G. brieflich um ein Autograph für eine ungenannte mir befreundete junge Dame, die sich für seine Poesie interessiere, gebeten - und zwar mein Lieblingsgedicht: "Glück" genannt; soeben brachte mir der Briefträger seine Antwort mit freudiger Empfehlung an jene Dame. - Das Autograph beiliegend.) Greif ist in meinem Alter[1], unbeholfen wie ein Kind, verträumt und unpraktisch. Er ist, wo er einkehrt, der Schrecken der Kellner, da er die Gläser umstösst und die Speisen auf den Boden praktiziert; sein Äusseres hoffnungslose Prosa - die Zigarre zündet er natürlich am falschen Ende an - im Kaffeehaus trinkt er aus Versehen die Tassen seiner Nachbarn aus, wobei er Einen mit seinen treuen Augen so traurig anschauen kann, dass man ihm gut sein muss. - Sie glauben vielleicht, dass ich bei meiner Vorliebe für Poesie selbst Verse verbreche? Gewiss nicht - aber die hier gewonnenen Stimmungen in Musik setzen, das kann ich wohl. Greif's Dichtungen eignen sich gerade ihrer Prägnanz wegen weniger für Musik. Das verstand meine liebe Frau, obschon bei Weitem kein so hervorragendes Dichtertalent (wie etwa die Droste-Hülshoff) dennoch besser, als die meisten Dichter, für Musik zu schreiben. Hierin sind die Legenden und Balladen, z. B. "Christoforus"[2] und "Montfort", die sie mir verfasste, ganz unübertrefflich. Als ich im Jahre 1883 auf Hiller's Einladung im Gürzenich in Köln ersteres Werk dirigierte, wurde sie zu meiner Freude auch als Textdichterin sehr gefeiert, und war darüber (weil unerwartet) ganz glücklich; jene Aufführung war auch die beste, die ich gehört. Am darauffolgenden Morgen stand Fanny früh auf und sagte: ich solle nur ausschlafen, sie müsse noch in den Dom, und dann einen kleinen Einkauf machen. Zurückkommend hatte sie ein Paquetchen und entwickelte demselben ein - Sterbekreuz von eigenthümlicher, alter Form, wie man sie nur in Köln bekommen soll. "Sieh, wir waren gestern Abend so glücklich, wie wir es vielleicht nie mehr sein werden; da habe ich mir als liebe Erinnerung ein Sterbekreuz gekauft; das gibst du mir in den Sarg mit, wenn ich vor dir sterbe!" Ich habe es ihr am letzten Dezember 92 in die erkaltende Hand gedrückt und mitgegeben. -

 

1.11.

So oft ich die Feder zur Hand nehme, Ihnen zu schreiben, fällt mir Ihre Bemerkung, dass meine Briefe Sie traurig stimmten, wieder ein. Ähnliches Urtheil musste ich schon in jungen Jahren vielfach über meine Musik hören; aber erst als Fanny mich freundschaftlich auszankte: "Müssen denn deine Kompositionen immer tragisch ausgehen? Da meinen dann schliesslich die Leute, du seiest unglücklich verheiratet!" Das half dann in vielen Fällen; aber gegen sein Naturell (Sie nennen das sehr treffend "Schwerlebigkeit") kann man nicht ankämpfen - und doch ziehe ich z. B. im Theater ein heiteres Stück einem tragischen vor und kann in sympathischer Gesellschaft sehr heiter sein, d. h. auf ein paar Stunden. - Heute (Allerheiligentag) sind alle Gräber geschmückt zum morgigen Allerseelenfeste. Mich rühren nicht die mit seltesten Blumen, Kränzen, Lampen usw. luxuriös herausgeputzten Gräber und Grüfte der Reichen, wohl aber die Grabstätten der Armen, die in ihrem so dürftigen Schmuck mich auf das innigste bewegen können; wie viel Liebe und Hoffnung ist hier begraben! Fanny ruht provisorisch im Grabe ihrer Eltern; ich habe aber auf ihren testamentarisch geäusserten Wunsch hin eine schöne grosse Gruft[3] unter den Arkaden des neuen südlichen Friedhofs gekauft - nur für uns Zwei - möchte aber das entsprechende Denkmal, auf dem eine Statue der hl. Cäcilia (nach dem Rafael'schen Bilde in Bologna) angebracht werden soll, jetzt noch nicht errichten und Fanny erst nach meinem Ableben exhumieren und überführen lassen. Das Wetter ist nun so weich und schön, dass man den süddeutschen Ausdruck: "Todtenfrühling" für Allerseelen ganz gut begreift. - Genug, der Lebende hat Recht! lese ich in Ihren ungeduldig gewordenen Zügen - nicht? Es ist wirklich hohe Zeit von was Anderem zu plaudern! Sonderbar! das Bestreben, seinen Gedanken brieflich Ausdruck zu geben, die Briefe aber wieder zu vernichten, kenne ich auch! Es ist wahlverwandt mit dem Tagebuchschreiben, und doch wieder anders, - es bildet eine Entlastung der aufs höchste gespannten Gemüthsunruhe und hat etwas. Änliches wie die Aussprache in Musik und Poesie. Wir fühlen darin so ähnlich, dass ich aus Ihrem lieben Briefe fast vermeinte, mich selbst herauszuhören, und doch haben wir uns nie darüber ausgesprochen! - Ihr so schönes Wort: dass Greif bei Ihnen eingekehrt u. bald Hausfreund geworden sei, werde ich gelegentlich dem Dichter mittheilen - es wird und muss ihn stolz machen; ein so feines und liebenswürdiges Urtheil sieht aber auch nur Ihnen gleich! Das wäre mir als Künstler lieber, als drei Spalten Lob in der "Vossischen!"[4]

Nun es Abend ist, denke ich mir Sie ebenfalls am Schreibtisch, so dass sich unsere Gedanken kreuzen. (Lassen Sie mich immerhin ein wenig phantasieren - vielleicht trifft es zu!) Die Bäume vor meinem Fenster sind jetzt alle entlaubt, aber in meinem Innern ist es gottlob noch nicht Winter!

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, dass Frauen in allen Künsten Leistungen ersten Ranges aufweisen, ausgenommen in der musikalischen Komposition. Früher hatte ich ziemlich talentvolle Schülerinnen auf diesem Gebiet - aber über ein gewisses Mittelmass von Reproduktion ging es nie hinaus, wenn auch die Verstandesarbeit ganz respectabel war. Somit erscheint die musikalische Komposition eine mehr männliche Kunst zu sein, als z. B. die Malerei, die erste Namen wie Rosa Bonheur, Angelika Kaufmann und die Giovanni, von der ich in Bologna meisterhafte, kirchliche Bilder gesehen habe, aufweist. Und doch sollte man glauben, dass die Tonkunst dem weiblichen Wesen konformer sei, seinem Gemüthe sich noch mehr nähere. Ich kann aber doch nicht glauben, dass das Gemüth des Mannes tiefer gründe; denn die Seele der Musik, die Melodie, ist zunächst Herzenssache. Sie aber, meine theure Freundin, könnten mir wohl gelegentlich, wenn Sie gerade nichts zu versäumen haben, auch Ihre Ansicht hierüber mittheilen, und wenn Sie glauben, dass ich Unrecht habe, so schonen Sie mich nur nicht! (Ich möchte nämlich auch von Zeit zu Zeit ein Bischen streiten!) -

 

2. 11.

Ich leide an grosser Bücher- und Musikaliennoth, d. h. dass ich deren viel zu viel habe und gar nicht mehr weiss, wohin damit; besonders Musikalien bekomme ich von überall her zugeschickt; ich stopfe alle leeren Räume voll und bin unglücklich, wenn ich etwas wieder hervorsuchen muss. Einmal werde ich doch an das Ordnungschaffen gehen müssen um eine richtige Bibliothek herzustellen; es kann aber eine Sysiphusarbeit werden. -

Es ist geradezu komisch, wie ich der Vertrauensmann so vieler unbekannter Leute geworden bin, und manchmal gar nicht bequem - abgesehen vom Zeitverlust.

Ihre liebenswürdige Blumensendung kam gerade noch zu rechter Zeit; gestern war nämlich bei uns Allerheiligenfeiertag, zugleich Prinzregentens-Namenstag, und da wurden keine Poststücke ausgetragen; doch heute früh konnte Ihr lieber Wunsch noch erfüllt werden. Mein herzlicher Dank wird auch inzwischen bei Ihnen eingekehrt sein - gilt aber nicht als Brief wie ich ausdrücklich bemerke; dazu wäre es doch zu wenig ausführlich!

 

3. 11.

Verehrteste Freundin! Ihr so inhaltsvoller Brief, den ich heute erhalten - der für mich von all Ihren bisherigen Briefen das höchste Glück und tiefste Leid enthält, gibt meinem armen Kopf so viel zu denken - so viel, dass ich nicht weiss, wo mit der Antwort beginnen. - Sie schreiben nichts über das Befinden Ihres Hrn. Bruders; da die Ankunft Ihrer Frau Mutter sich verzögert, scheint die Rekonvaleszenz leider nicht so rasch wie wünschenswert voranzugehen-Sie haben doch nicht schlimme Nachrichten? Dass Sie Ihre edle Mutter so sehr lieben, ist einer der höchsten Lichtpunkte in Ihren Mittheilungen. - Als wir, F. und ich im Herbste 1873 in Vaduz meine alten Eltern besuchten, erkrankte meine liebe Mutter schwer und der Abschied am Ende der Ferien liess keinen Zweifel, dass es der letzte sei - sie wusste es auch selbst. Als wir schon Abschied genommen hatten, liess sie mich noch einmal allein an das Sterbelager rufen, nahm mich bei der Hand und sagte: "Du hast mich immer geehrt, hast mir nie im ganzen Leben Kummer od. Verdruss, immer nur Freude u. Ehre gemacht; ich habe nie ein böses oder auch nur ungeduldiges Wort von dir gehört - ich danke dir dafür! um dich ist mir nicht bang, dir muss es im Leben gut gehen!" Sie starb zwei Tage später. Ich habe das bis heute Niemand erzählt, nicht einmal meiner Frau; aber in den schwersten Stunden, deren ich viel mehr hatte, als Sie ahnen, hat sich dieser Segen einer sterbenden Mutter als theures und wirksames Vermächtniss bewährt. Hier auf dem Felde der höchsten Pietät gegen eine Mutter treffen wir uns wohl; ich hätte des kleinen Vorkommnisses sonst nicht erwähnt. - Aber schwer bekümmert hat mich Ihr Wort, dass wir uns fast in keinem Punkte der Religion treffen würden! Bekümmert oder leid gethan? Nein: wehe gethan haben mir die Zeilen, verwundet haben sie mich - und mich erst so recht empfinden lassen, wie theuer Sie meinem Herzen geworden sind! Ich bin heute nicht im Stande, darauf zu entgegnen - aber ob ich kurz oder lang zu leben habe: der Tag soll mir ein Freudentag sein, an dem Sie mir mittheilen, dass Sie zu dem einfachen Glauben Ihrer Kindheit zurückgekommen sind. - Es ist doch nicht intolerant, was ich aus tiefstem Herzen hier geschrieben?

 

4. 11.

Ich hatte gestern Abend leider Kapitel-Sitzung des Maximilians- Ordens, da ich Einer der zwölf Kapitulare bin. Den ganzen Tag schon nervös erregt, bekam ich so heftiges Herzklopfen, dass ich die Sitzung verlassen und an die frische Luft musste. In dem tollen nächtlichen Strassentreiben mit dem Gefunkel der elektrischen Lichter, dem tosenden Lärm der Massen, der frechen lichtscheuen Gestalten, überkam mich wieder jene von mir so gefürchtete Todestraurigkeit - ich gedachte meiner lieben Todten, mit ihrem stählernen Charakter, ihrer Feuerseele und ihrem kindlichen Herzen, die mich über Alles geliebt, - gedachte meiner Vereinsamung, gedachte Ihrer, in unerreichbarer Ferne! - Als ich endlich einen Wagen fand um nach Hause zu kehren, hörte das beängstigende Klopfen auf; bei Tisch aber konnte ich keinen Bissen hinunterbringen. Mit rasendem Kopfweh legte ich mich nieder, um wach zu bleiben bis zum Morgen! Welche Gedankenwelt wälzt sich da in dem armen Gehirn herum! - Jetzt aber ist's genug, es ist Sonntag, ohne Sonne; ich will mir aber Sonne machen, indem ich der vielen sonnigen Tage im heurigen Sommer gedenke, - wie ich Sie oft über das Plateau schreiten sah, den Kopf so charakteristisch leicht vorgebeugt. Mit diesem mir so lieben Bild, das ich den ganzen Tag festhalten möchte, will ich schliessen.

Sollte Sie dieser Brief wieder traurig stimmen? Hoffentlich nicht - beruhigen Sie mich darüber in Ihrem nächsten Briefe, den ich (wie immer) mit Sehnsucht erwarte.

In herzlichster Verehrung
grüsst Ihr treuer

Jos. Rheinberger

______________

[1] Greif ist in meinem Alter = geb. 1839, gest. 1911

[2] «Christoforus» = Legende für Soli, Chor und Orchester (Text: Fanny von Hoffnaass), op. 120 «Montfort» = Eine Rheinsage für Soli, Chor und grosses Orchester (Gedicht von Fanny von Hoffnaass), op. 145

[3] eine schöne grosse Gruft = s. S. 21 /Z. 12 f

[4] in der «Vossisehen» = Vossische Zeitung