Rheinberger über seine Fantasien (die ihm Freude und Glück bereiten) u.v.m.


München, den 15. 11. 00.

Meine theure Freundin!

Da ich so brav und fleissig war, Ihren letzten Brief noch am Tage des Empfanges zu beantworten, (das Sommeridyll war freilich schon fertig) so dürfte ich heute Vakanz machen. Da wäre aber ich der Gestrafte, denn es ist mir Herzensbedürfnis geworden, alle Tage wenigstens ein halb Stündchen mit Ihnen zu plaudern. J. J. Rousseau hat das Kunststück zu Stande gebracht, in seinem Singspiel "Le dévin de village" eine ganze Romanze über drei Noten zu setzen. Ich aber bin ihm noch über: ich bringe zwanzig lange Briefe; fertig, deren Inhalt sich eigentlich auf drei Worte reduziert! Abends (vor dem Plaudern) spiele ich mir eine Komposition ("Romantische Sonate")[1] vor, die ich mir mit dem Freunde aus dem Sommeridyll identifizierte, natürlich nur in meiner Fantasie, die wie Sie wissen, etwas lebhaft ist. Da muss man uns Künstlern schon etwas zu gut halten. Wenn ich Sie vielleicht in meinen Gedanken zu sehr idealisiere, so geschieht das ja nur für mich - ich empfinde Freude und Glück dabei. Und wenn ich wünschte, dass Sie vollkommen wären, so fühle ich nur um so mehr, dass ich leider nicht so gut bin, als ich sein möchte. Ist es nicht eigentlich närrisch von mir, mich so sehr um Ihr Seelenleben zu kümmern, da ich ja nicht das geringste Recht an dasselbe habe, noch je haben werde? Kant sagt irgendwo: das unbegreiflichste auf der Welt ist der gestirnte Himmel und das menschliche Gewissen. Eine sonderbare Zusammenstellung! Mir ist das Unbegreiflichste die plötzliche elementare Sympathie zweier Seelen, die durch Lebensalter und Lebensstellung getrennt, sich ohne Worte Eins fühlen! Finden Sie nicht auch? Es ist ja volle Wahrheit, was ich damals im Scherz geschrieben, dass Sie mir bei dem ersten Wort, das ich von Ihrem Munde vernahm, ins Herz gestiegen sind, während mir die längsten Konversationen von hundert Anderen nicht den geringsten Eindruck machen.

Etwas wie Hexerei muss doch dabei sein! Auch soll man nicht immer fragen: warum! Die Sonne scheint auch, und Niemand fragt warum. - Ebenso war es einst Zufall, dass ich Fanny kennen lernte. (A propos fällt mir ein, dass Sie mein Bild aus jener Zeit wünschten; ich habe ein lebensgrosses, von Fanny selbst gezeichnet; sodann eine grössere Photografie aus Anfang der 70iger Jahre; wenn man das Letztere verkleinern kann, werde ich es Ihnen gelegentlich senden. -

 

den 16. 11. Spätherbst

"Du gehst umher so trüb - Kein Blümlein übrig blieb - Die Blätter sich verfärben - Das Herz möcht' selber sterben." - Wo hat je ein Dichter in vier knappen Zeilen so schwermüthige Herbststimmung gemalt, wie hier unser Freund M. Greif? Finden Sie nicht auch? So zeichnen darf ja wohl der Dichter; aber Sie, theuerste Freundin sollen in Ihren Briefen nie mehr von "jung sterben" reden. - Um elf Uhr fuhr ich auf den Friedhof um auf Völderndorff's Grab das Datum "10. Dez." zu finden, also muss der 12. oder 13., spätestens der 14. der richtige Tag sein. Dann ging ich zu meinem Grab - denken Sie meine Überraschung: Ihre Blumen blühen jetzt nach 16 Tagen wie neugeboren! Es war mir wie ein Doppelgruss der beiden theuersten Seelen! Und als ich heim kam, Ihr unsäglich lieber Brief, der mir von A-Z wie die schönste Mozart'sche Melodie klang! ich bin ganz glücklich darüber! (Statt der höchstbescheidenen kleinen Romanze hätte ich Ihnen was Besseres gewünscht.) Da Sie jetzt eine sehr bewegte Zeit im Familienkreis haben, so bitte ich Sie dringend, nicht zu viel Rücksicht auf mich zu nehmen. Ihr Brief hat mich so vollständig beruhigt, dass der "Wunsch" in gutem Sinn erledigt ist. Danke! Nun zu dem "stählernen Charakter" - das ist sehr ernst. - Im Frühjahr 1866 (wir waren erst verlobt, doch wusste es noch Niemand) erkrankte Fanny an einem inneren Leiden so schwer, dass der berühmte Chirurg Dr. Nussbaum erklärte, ein qualvoller Tod innerhalb eines halben Jahres sei ihr gewiss, wenn sie sich nicht einer schweren Operation, die allerdings höchst gefährlich sei, unterwerfe. Er habe diese damals neue Operation bei Spencer Wells (dem ersten Chirurgen Englands ) gesehen, reise auch in einigen Tagen wieder nach London, um sich darin noch zu vervollkommnen; bei der Rückkunft sei er dann bereit, wenn sie sich dazu entschliessen könne. Fanny's Vater wandte sich mit ihr um Auskunft an die medizinischen Fakultäten in Würzburg und Wien, welche diese Operation für tödtlich, für Mord erklärten! Bei Nussbaum's Rückkehr entschloss sie sich schweren Herzens, bereitete sich zum Tode und empfing die Sterbesakramente. Nur ihr Vater und ich wussten darum; um unsere Verlobung aber wusste niemand, auch die Eltern nicht. Von der Operation durfte auf Wunsch des Vaters ihre Mutter nichts wissen, "weil sie sich zu Tod ängstigen würde". Sonntag (den 11. April 1866) kam ich wie gewöhnlich, sonst um zu musizieren, diesmal um Abschied auf Leben und Tod zu nehmen. Sie war wunderbar gefasst und bestand darauf, meine für sie geschriebenen Lieder (ich glaub' "Es fiel ein Reif" war auch dabei) zum letztenmal durchzusingen! Wie mir da zu Muthe war! Ich sah sie innerhalb 18 Stunden todt und verblutet (im Geiste) liegen - nachdem ich fort war, kam ihre ahnungslose, theaterliebende Mutter und beredete sie "ihr zu Liebe" mit in's Theater zu gehen, weil eine gar so lustige Oper gegeben. werde! In der Nähe ihres Platzes sass Nussbaum und winkte ihr freundlich zu. "Warum schaust du immer nach Nussbaum statt auf die Bühne?" fragte die noch Arglose. - Ich will nun kurz sein. Montag früh ordnete sie mit der barmherzigen Schwester selbst den Operationstisch. Mein Schwesterchen half auch dabei und ging dann in die benachbarte Ludwigskirche, um während der Operation zu beten. Um 11 Uhr kam Nussbaum mit einem Stab von Ärzten. Die 1 1/Zstündige Operation gelang in unerwarteter, ja glänzender Art und erhöhte Dr. Nussbaum's Ruf bedeutend. Er erklärte aber auch, nie einen solchen Heldenmuth, solch geistige Kraft bei einer Frau gefunden, oder auch nur für möglich gehalten zu haben, - sie sei ein wahrhaft stählerner Charakter. Nach 10 Tagen durfte ich sie wiedersehen. Mit unbeschreiblicher Dankbarkeit hing sie nun an Dr. Nussbaum, der unser lieber Hausfreund wurde; noch im Jahre 1891 schrieb sie an ihn: sie verdanke ihm die 25 glücklichsten Jahre ihres Lebens. Am 24. April 1867 war unsere Trauung in Harlaching, einem kleinen Dorfkirchlein an der Isar. - Als ich vor einigen Jahren Audienz beim Prinzregenten hatte, sprach er auch zu meiner Verwunderung mit grosser Wärme von meiner verstorbenen Frau (Ich wusste nicht, dass er sie je bemerkt hatte) und schloss mit den Worten: "0, das war eine schöne Frau!" Ich entgegnete: "Königliche Hoheit, sie war noch mehr, sie war eine gute Frau!" Als einmal, in Kreuth ein Bekannter (Minister v. d. Pf.)[2] Fanny gegenüber über ihre Religiösität witzeln wollte, entgegnete sie ihm scharf: "lch habe ein Recht darauf, fromm zu sein; ich habe es theuer erkauft!" Nun wird Ihnen auch die letzte Strophe, Seite 255, im "Brenner Buche"[3] verständlich sein. Um Fanny's Lebensbild zu vervollkommnen, werde ich Ihnen später einmal über die letzten 16 Monate ihres Lebens berichten, - ein furchtbar ernstes Kapitel! - Also nach erlangter Mündigkeit wollen Sie einmal bis November in Kreuth bleiben - da wird sich Herr Oberl. K. freuen und ich werde ihn in München beneiden; ich will ihm zwar alles Gute wünschen, aber in dieser Angelegenheit hört meine christliche Nächstenliebe auf. Ja, jener grosse Zwetschgenkuchen vom 11. August gab mir zu denken; der liess tief blicken! Wie weit ist die Kunst des Photographierens gediehen? Jetzt werden Sie keine Zeit darauf verwenden können. Das führt mich wieder zu der dringenden Bitte, ja nicht meinetwegen etwa eine Ihrer häuslichen Arbeiten zurückzusetzen! ich wäre ganz unruhig darüber! Ihr lieber letzter Brief hat mich so unendlich erfreut, dass ich billigerweise schon warten kann - nur nicht gar zu lange! - Es freut mich herzlich, dass Ihnen unsere Martinus Gedichte ebenso sympatisch sind, wie mir; es giebt überhaupt keinen Dichter, der den eigenthümlichen Zauber der Poesie der Schwermuth so beherrscht, wie er. Z. B. "Quell der nicht trocknet" -"Denkst Du an den Sommertag?" - "Hörst Du, wie in meinen Liedern" (mit der wunderbaren vierten Strophe!) - "Gesteh', Du bist der Sorge hold" - "Es blüht ein Grab in treuer Hut" - "Das Schicksal kennt kein Mahnen" - "Wie mich oft so tief erschreckt" - "Goldgewölk und Nachtgewölb" - "Der Zweifler" - "Spätherbst" - "Auch die Haide blühet" - "Das zerbrochene Krüglein" - sind Alles Perlen ersten Ranges. - Greif ist arm; er bezieht einen kleinen Gehalt von der Schillerstiftung und ditto vom Prinzregenten; dafür muss er immer Prologe und Festspiele bei besonderen Gelegenheiten liefern, was eine wahre Fronarbeit für einen genialen Dichter ist. Er hat auch Trauerspiele, darunter eine sehr gelungene "Agnes Bernauer" geschrieben. - (Greif ist glücklicherweise unverheiratet.)

Otto Scherzer: Situation - grosse schöngeistige Soirée bei Prof. Riehl, Zeit: Ende der 60ger Jahre. Anwesende Personen, die Dichtergrössen: Geibel, Heyse, Bodenstedt, Hermann Lingg, Hertz, Leuthold, Schack und Otto Scherzer. Gegenstand des Gespräches: die deutsche Dichtkunst. Als unglücklicherweise der Letztgenannte um seine Ansicht gefragt wurde, erhob er sich und sprach: "Es gibt nach meiner Ansicht gegenwärtig in Deutschland nur einen einzigen Mann, der es verdient, "Dichter" genannt zu werden, und das ist Eduard Mörike in Thübigen". Sprach's und setzte sich nieder. Allgemeine Todtenstille während 25 Sekunden. Angenehme Situation für Frau Scherzer und Frau Riehl. Endlich allgemeines Räuspern und Gespräch über das Wetter. Frau Riehl hat es uns selbst erzählt. -

Da Sie auch so freundlich sind, sich für mein Zimmer zu interessieren, so werde ich Ihnen in einem der nächsten Briefe ganz genaue Auskunft geben; aber erwarten Sie ja nicht etwas Ausserordentliches zu vernehmen; es fehlt mir eben, seit meine gute Olga weg ist, eine weibliche, vorsorgende Hand. Fanny hat seiner Zeit die Möbel und Gegenstände recht durcheinander geworfen und gestossen, Vorhänge drapiert und in einer halben Stunde überall ein geschmackvolles Arrangement zu Stande gebracht. (Wir nannten uns komischerweise gar nie, weder mündlich noch schriftlich bei unseren Namen, sondern immer nur Curt und Miez.) Wie gemüthlich es sich liest, wenn Sie von Ihrer häuslichen Thätigkeit berichten; ich habe das so gern. Als bei mir im Nebenzimmer noch das Rädchen schnurrte, wurde ich nie ungeduldig, sondern fand es nur "heimelig". Sie thun sich wohl sehr unrecht, wenn Sie bedauern, nicht gerade ein Talent zu haben, um damit das Leben auszufüllen. Dafür haben Sie glänzende Gaben des Geistes und Herzens im Oberfluss, um sich und Andere zu beglücken! Ich finde das immer auf's neue, wenn ich in Ihren Briefen lese, was ich so gern thue; ich stell' mir dann vor: Sie sprächen das Alles und höre Ihre liebe Stimme dabei!

 

Sonntag, 18. 11.

In Kreuth war es mein höchster Wunsch, ein Bild von Ihnen zu erhalten; Sie darum zu ersuchen, fand ich nicht schicklich; ich zerbrach mir den Kopf - es fand sich kein Ausweg. Dann dachte ich mir, man könnte sich ja Gesichtszüge durch fleissiges Anschauen einprägen, d. h. auswendig lernen - merkwürdigerweise kann man es nicht dahin bringen, dass einem dieselben jederzeit gewärtig sind. Ihre Stimme aber konnte und kann ich mir jeder Zeit vergegenwärtigen. Es blieb mir also nur die Idee, durch Zusendung meines Bildes die Gegenseitigkeit hervorzurufen. Eine unerbetene Zusendung meines Bildes an eine Dame machte mir aber dann Skrupel und Ängstlichkeit - als Ihr Briefkouvert mit einem Bild beschwert kam, fürchtete ich, dass Sie mir mein Bild mit Protest zurückschicken - nun meine Freude, dass mein inniger Wunsch so schön erfüllt war! Es war mir ein so glücklicher Tag, und ich ersuche meine hohe Gebieterin, darüber nicht zu lächeln! Ich hätte es Ihnen am Ende gar nicht schreiben sollen. Sind die Verse auf der Rückseite des Bildes von Ihnen verfasst? Indem ich Ihren Brief wiederlese, sehe ich, dass Sie irrthümlicherweise Seite 2 Ihres, nicht meines Briefes verstanden hatten; ich äusserte nur die Hoffnung, dass mein junger Freund sich zunächst jener Lektüre enthalten möchte, die sich der positiven Religion gegenüber negativ verhält. Rien de plus. Sie haben mich ja darüber vollständig beruhigt - nicht wahr? Ich freue mich für Sie, dass Sie in wenig Tagen ein frohes Wiedersehen feiern können - mögen Sie es recht geniessen! - Am 1. Juli soll die Bahn Tegernsee-Gmund eröffnet werden. Wenn die Zeit in diesem langsamen Tempo fortschleicht, wird es mir wie drei Jahre bis zum 15. Juli vorkommen! Ist Ihr Arm wieder vollkommen gut? ach, ich glaube fast, dass ich gar zu viel an meine "hohe Gebieterin" denke - es ist ja nichts Unrechtes, und ich thue es so gern! Fanny sagte oft zu mir: "Ich mag die Menschen nicht, die immer gescheidt sind". Wie denken Sie darüber? Zähle ich doch nicht auch dazu? Und meine nächsten Bekannten sagen, ich sei zu drei Viertel eiskalter Verstandesmensch! Das hat mir schon oft heimlich Spass gemacht. - Es ist jetzt immer nebelig, kalt, unfreundlich.

Martinus singt: "Abend und Morgen scheinen im Dämmer nimmer zu enden - Winter ist da". - Es wird in Berlin auch nicht viel anders sein. Wenn nur erst Neujahr vorüber ist - dann geht es doch mit Macht dem Sommer entgegen.

Mit den herzlichsten Grüssen und dem besten Danke für Ihren letzten, so liebenswürdigen Brief (möge er noch recht viele ähnliche Nachfolger haben)

in treuer Freundschaft und Verehrung
J.Rh.

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[1] «<Romantische Sonate») = Klaviersonate Nr. 4, fis-moll, op. 184, komponiert 1896.

[2] Minister v.d.Pf = Ludwig Freiherr von der Pforten (1811-1880), bayerischer Aussenminister, Vorsitzender im Ministerrat und Professor des römischen und bayerischen Rechts.

[3] die letzte Strophe... im «Brenner Buche» = Franzisca von Hoffnaass «Abschied von Venedig» (in „jenseits des Brenners“ S. 255 f), letzte Strophe:

«Ein "Traum wird's sein, herabzublicken

Wo diese Schönheit dunkle Nacht,

Wenn wir mit seligem Entzücken

Den Schöpfer schau'n in seiner Pracht.»