Äusserst langer Brief Rheinbergers an Henriette Huber-Hecker über alltägliche Themen wie Reisen, Musik, Trauer, Schach, Kunstausstellungen etc.


München, 9.12.1900

Meine theure Freundin!

In Ihrem lieben Briefe vom 1. Dezember sprechen Sie sich so aufrichtig und nett über Ihre vermeintlichen Fehler aus, dass man fast an Musik gemahnt wird, in welcher von Zeit zu Zeit eine beinah muthwillige Dissonanz wie ein Kobold erscheint um den Leser zu necken. Doch ist auch manch ernstes Wort dabei. Es geht mir wie Ihnen, in Betreff des Spottes: er verletzt auch in seiner milderen Form. Man will lieber gehasst als verspottet sein, und leider gibt es Leute, die sich ohne weitere böswillige Absicht ein gewisses spöttelndes Wesen angewöhnt haben und dadurch uns, je nachdem wir in Stimmung sind, unerträglich werden können. So war Moritz von Schwind, der grosse Maler; er verfügte jederzeit über einen stechenden Witz, mit dem er Niemanden verschonte, ausser Fanny, die ihm's ihr gegenüber energisch abgewöhnt hatte; doch war er dabei wieder so gutmüthig, es uns nicht nachzutragen. - Im Februar 1871 erschien er einmal bei uns mit einer riesigen Mappe voll Skizzen: "Ihr seid doch vernünftige Leut', Euch will ich mal meine Zeichnungen erklären - bei Andern thät' ich's nicht" - dann packte er seine Schätze aus, mit einem Brillantfeuer von Witz, kleinen und grossen Bosheiten - es war ein wahrer Hochgenuss doppelter Art. Als wir nach ungefähr einer Stunde die Hälfte durchgegangen hatten, sagte er: "Jetzt bin ich müd' - bei Euch gefällt's mir, die Mappe lass ich da, Morgen komm' ich wieder." Da betrachtete er (an der Wand rechts) seine berühmten "Siebenrabenbilder"[1] ; "Die sind doch nicht übel", meinte er schmunzelnd. (Diese Bilder waren damals Veranlassung meiner Oper gleichen Namens.) Aber am anderen Tag kam er nicht, am dritten und vierten auch nicht; da sandte Fanny die Mappe zurück und der Diener brachte dann die Nachricht, dass der Herr von Schwind soeben gestorben sei. So war's auch! -

Weiss Gott, wie ich in meinem letzten Brief zu einem Ausfall auf das Tragen der Zwickbrillen der Damen kam! Ich erinnere mich doch nicht, Sie jemals mit einer Solchen gesehen zu haben! Das habe ich schlecht gemacht - und ich wäre doch jeden Tag so sehr froh, wenn ich Sie nur auf kurze Zeit, und wär' es selbst mit Zwickbrille, sehen könnte! Verzeihen Sie halt dem ungeschickten "Brummbären", der ja selbst sich mit Brille durchs Leben schlagen muss! Ein kleiner Trost ist's mir aber doch, dass Sie auf den Neuaufnahmen, von denen Sie schreiben, kein solches Ungeheuer tragen. Werde ich auch ein Exemplar einer dieser Aufnahmen erhalten? Wenn Sie wüssten, mit welcher Freude und Pietät ich selbst Ihrem "Schatten" entgegenkäme, so würde ich sicher Eines bekommen; doch ich will nicht unbescheiden sein, besitze ich doch durch Ihre Güte ein schönes Bild, das ich jetzt allerdings auswendig gelernt habe. Wie sagt Hänschen bei Tisch, als er beim Kuchenaustheilen aus Versehen übergangen wurde? "Ich kann auch Kuchen essen, aber betteln thue ich nicht!" So möcht ich's beim Austheilen der neu aufgenommenen Bilder halten. - Sie meinen, dass sich der musikalische Geist früh in mir geregt haben müsse? Das war wirklich der Fall, denn ich erinnere mich (trotz meines vortrefflichen Gedächtnisses) nicht, dass ich überhaupt je die Noten kennenlernte; jedenfalls kannte ich sie - vor den Buchstaben und ging doch schon mit fünf Jahren in die deutsche Schule; ebenso war damals schon mein Gehör so untrüglich, dass ich alle, auch die komplizierten Accorde, die man auf dem Klavier anschlug, blindlings nennen konnte. Das ärgerte meinen lieben, alten Schulmeister sehr, weil er's nicht konnte. Doch ist da gar kein Verdienst dabei, das ist angeboren; wie es Leute giebt, die (ohne Zwickbrille) ausgezeichnet scharf sehen. So wird es sich mit dem Musikgehör ähnlich verhalten.

Sie fragen ferner, ob ich öfter in Italien war? Leider nicht - wir hatten uns vorgenommen, öfter dieses Land der Sehnsucht zu besuchen, - allein, immer kam etwas dazwischen; und wenn mit meiner Gesundheit kein Wunder geschieht, so komme ich auch nicht mehr hin. Denken Sie, dass ich 1885 zum letzten mal in Vaduz (das ist nämlich mein Geburtsort, wie Sie vielleicht noch nicht wussten) war, zum grossen Kummer Olga's. So wunderschön die Gegend dort ist und mich tausend Erinnerungen bewegen würden, so wäre mir der Eindruck doch nur der eines Friedhofes, da alle meine Angehörigen gestorben sind. Nicht leicht stimmt etwas trauriger, als in so bekannter und vertrauter Stätte nur mehr unbekannte Gesichter zu treffen - d. h. im Eigenen fremd geworden zu sein - doch das sind Ihnen alles unbekannte Dinge und können Sie auch nicht besonders interessieren, - aber ich "radele" mit der Feder aufs Geratewohl so in die Nacht hinein, und das gute Herz meiner hohen Gebieterin verzeiht mir das zwanglose Geplauder. Nicht? -.

In einem grösseren Cyklus von Sonetten Fanny's finde ich eines, das frappant auf Ihr Bild: "Erschaffung Adam's" von Michelangelo passt:

Kunst

Ein Wunderwerk der Kunst, wenn aus dem Steine
Ein Antlitz Du gemeisselt, voll des Lebens.
Und doch - der Züge ideale Reine
Befragst um ihre Seele Du vergebens.
Der grosse Bildner, der aus wenig Erde
Den ersten Menschen hoch und frei gestaltet,
Dem er Bewusstsein gab mit seinem "Werde",
Den Geist, der durch Jahrtausend nicht veraltet-
Wie ist er über Dir so hoch erhaben!
Und doch weihst Du ihm nicht Dein stolzes Denken
Und beugst Dein Knie nicht für die tausend Gaben,
Die er aus freier Güte Dir wollt' schenken;
Denn nur sein Hauch belebet Deine Glieder,
Er zieht ihn ein, und sterbend sinkst Du nieder. -

Wenn Sie, meine verehrteste Freundin, sparsam sind mit dieser Bezeichnung, so haben Sie vollständig recht; und wenn Sie nun eine ideale Freundin gefunden haben, die nebenbei noch "demüthig" ist, so sind Sie im Besitze einer seltenen Perle. Ich habe Ihnen seiner Zeit geschrieben, dass ich in meiner lieben Mutter die einzig demüthige Seele gefunden habe. Denn, dass Sie mir im Sterben dankte, dass ich ihr ein guter Sohn gewesen, ist doch höchste Demuth! (Sie war übrigens keine Deutsche, sondern Romanin.[2]) Wenn ich in meinen Briefen auch da und dort Jemanden meinen Freund nenne, so ist darunter eben ein naher Bekannter zu verstehen, mit dem ich viel verkehre, und ja nicht zu verwechseln mit meinem einzigen, lieben und wahren Freunde im "Sommeridyll"! Mit Brüdern und Schwestern ging es mir ähnlich - gern hatte ich sie Alle, aber vertraut war mir Keines. Alle, die kleinen Einzelheiten des inneren Lebens, die ich den Briefen an meine hohe Gebieterin so unbedenklich mittheilte, hätte ich sonst Niemandem schreiben können, - hätten vielleicht auch nirgends das hiezu nöhige sympatische Echo gefunden. Man muss eben fühlen, dass man richtig verstanden und mit seinem Vertrauen nicht lästig wird; dann aber sind die gegenseithigen Äusserungen, auch wenn sie gerade nicht wichtiger Natur sind, von ganz eigenthümlichem Reiz und "halten das Herz warm", wie wir's in Süddeutschland nennen. - Warum haben Sie damals, als Sie sich in Berlin bemühten, ein Autograph von mir zu erhalten, nicht lieber an mich geschrieben? Das ist ja so natürlich und unverfänglich, verpflichtet zu nichts und ist mir wohl ein paar hundertmal passiert. Und die Freude, die Sie mir damit gemacht hätten! Ach! Ich hatte Sie schon in so guter Erinnerung - haben Sie denn damals nicht daran gedacht? Aber vielleicht ist es besser so geworden. Hatte ich Unrecht, die Stelle aus Ferd. Hillers Brief zu zitieren? Sie nehmen das Sterben zu leicht - in Wirklichkeit ist es ganz anders - theilweise kann ich mitreden, da ich 1888 an einer Lungenentzündung gefährlich erkrankte und gefasst und vorbereitet zum Äussersten war - meine gute Frau nahm es schwer und hielt sich bewundernswürdig und - Gottlob, es wendete sich wieder zum Guten - es ist doch etwas Furchtbares von Allem, was man liebt, sich gewaltsam trennen zu müssen! Vier Jahre später war unser Schicksal vertauscht - ich werde Ihnen einmal über jene Zeit berichten; jetzt könnte ich's noch nicht - es würde Sie und mich zu traurig stimmen - das alte Verhängniss meiner meisten Briefe. Wenn ich so zurücksehe, auf all die schweren, zum Theil furchtbaren Gemüthsstimmungen, die ich durchleben musste, (und die mir wohl noch beschieden sind) so wundert es mich, dass ich doch noch die geistige Elastizität habe, mich über Manches zu erfreuen. Ich glaube an Letzterem ist Ihre mir so theure Theilnahme Schuld - Sie sind eben der Sonnenblick in meinem Lebensherbste - wie das kam, weiss ich nicht. Man soll auch nicht immer fragen, warum? Jetzt bin ich wieder im richtigen melancholischen Fahrwasser - es ist besser, für heute zu schliessen. - Wenn ich so zurück denke an den vergangenen Sommer (was häufig genug der Fall ist) so lerne ich mich noch von einer neuen Seite kennen - ich kann nämlich auch "neidisch" sein! Hr. Ob. K. konnte Tag für Tag auf der Alpe stundenlang sich Ihrer Gesellschaft erfreuen und ich "armer Teufel" fand nicht Zeit und Gelegenheit mehr als drei Worte zu wechseln und selbst diese mussten den Umständen gemäss möglichst gleichgültiger Art sein! - Den schönen Platz bei Tisch verdankte er auch nur meinen Bemühungen, damit ich dann wenigstens eine Seele hatte, mit der ich mich unbefangen hie und da über meine hohe Gebieterin aussprechen konnte! Hätten Sie mir diese kleinliche Gesinnung zugetraut? Vielleicht verliere ich bei Ihnen in Folge dieser Geständnisse, aber ich kann und will auch ehrlich sein und mich nicht besser machen als ich bin, selbst auf die Gefahr hin, dass Sie mich auslachen! Ich war selbst so kleinlich, jeden Menschen zu beneiden, mit dem ich Sie sprechen sah! So, jetzt ist's heraus, und jetzt werden Sie mich vielleicht auf Grund meiner "neidischen Eigenschaft" auf der Skala Ihrer Achtung um einen Grad zurückschrauben! -

 

5. 12.

Auch bei mir ist es jetzt Abends beim Schein der Lampe gemüthlich - Zufriedenheit und Ruhe, die unter Tags nicht vorhanden waren, haben sich eingestellt und wenn ich von Zeit zu Zeit einen Blick auf Ihr Stuttgarter Bildchen werfe, so ist's gar behaglich - während Sie dort mit einer Brandzeichnung (?) beschäftigt sind, hören Sie mir gar geduldig zu. Ist's nicht so? Nur mit dem Antworten sieht's schlimm aus, wenn ich etwas frage. Und ich habe so gar Viel zu fragen - möchte so gar Vieles wissen, und das gute Bildchen bleibt stumm. Ob das nicht für manche meiner Fragen besser ist? Sei es! Aber schön wär es doch, wenn so von Schreibtisch zu Schreibtisch eine Art Telefon ginge. Die vielen Bücher und Bilder und hundert unnützen Dinge um mich her sprechen auch eine nur mir verständlich Sprache; wo werden sie sein in wenig Jahren? Diese Unzahl lyrischer Gedichte z. B. welche mir seinerzeit die betreffenden Dichter mit persönlicher Widmung übermachten, in der Hoffnung oder vielmehr mit der Zumuthung, dass ich möglichst viele in Musik setzen würde - das Alles wird in die vier Winde zerstreut sein und einige Jahre darüber hinaus ist man von Allen vergessen. Doch nicht von Allen, es gibt auch Ausnahmen! So gut als ich manchen Geschiedenen, an den jetzt Niemand mehr denkt, treu und dankbar im Gedächtniss festhalte, - ebenso gut wird vielleicht auch die Erinnerung an mich gepflegt. Doch weg mit all diesen düstern Gedanken! Denke ich doch lieber an einen der herrlichen, thauigen Sommermorgen in unserem lieben Eden mit seinen lauschigen Plätzen! Wie singt unser Dichter? "Bei diesem hier, bei jenem dort, an jeder Stell', an jedem Ort, nur einmal noch bei dir!" Haben Sie niemals Verse geschrieben? Bei der starken poetischen Empfindung, die durch Ihre Prosa leuchtet, traue ich Ihnen lyrische Anlage zu. Doch sind Sie -nicht verpflichtet, all meine Fragen zu beantworten; es freut mich aber natürlich sehr, wenn ich Ihr innerstes Seelenleben näher kennenlerne, wie ich ja auch in meinen brieflichen Schilderungen nichts weniger als ein Buch mit sieben Siegeln bin. Ich höre Ihnen eben so gerne zu, wenn Sie von sich sprechen; da kann ich nie ermüden zuzuhören. Aber zum drittenmale bitte ich Sie, unserer Korrespondenz wegen nichts in Betreff Ihrer Familie zu versäumen, es wäre mir gar zu peinlich, denken zu müssen, dass man Ihnen hierin einen Vorwurf machen könnte. Sie wissen wie nah es mir geht, wenn ich längere Zeit ohne Nachricht von Ihnen bin (Gottlob war das ja bisher noch nie der Fall!) aber lieber das, als der Gedanke, dass Sie meinetwegen auch nur ein "ungeduldiges Wort" erführen!

 

Den 7. Dez.

Bei dem denkbar schlechtesten Wetter kommt Ihr herzlicher Brief, der so Vieles bringt, das mich zu ernstlichem Nachdenken anregt. Was nun die achtzehn Klassengenossinnen anbetrifft, so bitte ich dringend, denselben Allen den Vortritt zu lassen, selbst auf die Gefahr hin, dass unsere Korrespondenz "vielbändig" würde. Ach! die Gefahr, dass die Bäume in den Himmel wachsen, ist leider nicht gross!

Ich stelle mir nur vor, dass Sie heute das frohe Wiedersehen mit den Ihrigen feiern werden und hoffe, dass dadurch auch manche trübe Stimmung, der Sie sich manchmal zu leicht hingeben, in Wegfall kommen möge. - Frl. Helene Riehl (jetzige Frau Prof. Vogler) war in den Jahren 1857-59 meine Schülerin. Ich glaube sie hat damals mehr aus Pflichtgefühl als aus innerem Trieb sich der Musik beflissen und sich bald darauf mit Erfolg der Malerei hingegeben. Ihrer vortrefflichen Eltern, die mir, (dem damals blutjungen Künstler) stets liebevoll entgegenkamen, denke ich noch in dankbarer Erinnerung. Auch meiner Frau waren Riehl's sehr freundschaftlich gesinnt. -

Mein lieber verstorbener Freund Prof. Maier hat Sie also über meinen 3/4 eiskalten Verstand auch nicht überzeugt? Er liebte es sehr, an mir Manches zu tadeln, duldete es aber nicht, dass ein Anderer an mir etwas auszusetzen hatte. -

Wie sind die Menschen doch so tausendfach geartet! Keiner ist wie der Andere - wie die Blätter eines Baumes: man findet nicht zwei, die völlig gleich sind. -

Wie wohltuend sind mir die Worte Ihres Briefes, wo Sie gleich eingangs die Vermuthung aussprechen, dass ich wohl gleichzeitig an Sie denken, an Sie schreiben werde; da werden Sie freilich nie fehl gehen, wenn Sie das von mir glauben. Aber Wohl und Weh ist nahe beieinander: Keines ohne das Andere! Ist's ja doch manchmal schwer zu sagen, wo das eine beginnt und das andere aufhört! So geht es mir auch beim Briefschreiben: ich beginne mit dem freudigsten Herzen - dann kommt dies Bedenken, dann jenes - ich lege die Feder hin, glaube mich missverständlich ausgedrückt zu haben, - kurz, eine ganze Skala von Wenn und Aber kommt zum Vorschein - und das der gütigsten hohen Gebieterin gegenüber, die mir schon so viele Beweise ihrer Nachsicht gegeben hat! Dann lege ich den Brief weg, nehme Notenpapier, schreibe einige Takte - aber es wird Nichts rechtes; wohl höre ich innerlich, aber nicht die Melodie der Noten, sondern die einer viel theureren Stimme! Und jetzt lachen Sie mich frisch und frei aus - ich bitte Sie darum. -

Es ist manchmal geradezu komisch, wie wir auf dieselben Gedanken verfallen - Sie schreiben: wie es im Juli und August in Kreuth sein würde, wo wir uns doch nicht wohl schreiben können? Daran habe ich auch schon gedacht! Wenn es mal so weit wäre, Sie den ganzen Morgen auf der mir unzugänglichen Alpe zubrächten, und das Schicksal mir neidischerweise den Platz in Ihrer Nähe bei Tisch versagte (was ja Alles möglich ist) - und der Briefwechsel ebenfalls aufhört, so bin ich wirklich zu bedauern. Tritt nun dazu 8-14tägiges Regenwetter und die Trampelbude ist mit 20-30 spielenden und johlenden Kindern bevölkert, so dass man nicht drei Schritte zu zweit gehen kann, dann weiss ich nicht, was zu beginnen! Eines bleibt mir aber doch, - ich kann meine verehrteste Freundin wenigstens täglich sehen und vielleicht einige Worte wechseln; das ist zwar nicht viel, aber was gäbe ich jetzt dafür, wenn ich das haben könnte, ich ungenügsamer, undankbarer Mensch. - Herzlich musste ich lachen, dass Sie mir in Bezug auf das Radfahren Heuchelei interpretieren. Vielleicht erscheinen Sie in Kreuth mal hoch zu Rad, und dann erst habe ich das Recht mir ein Urtheil zu machen, wie es Ihnen ansteht; und ich bin aber schon im Vorhinein überzeugt, dass Sie sich auch zu Rad tadellos benehmen, wie das gar nicht anders sein kann! Im Übrigen: in welcher Naturgeschichte haben Sie gelesen, dass die Brummbären sich der Heuchelei bedienen? - Auch was Sie vom Empfang der Briefe melden: wann dieselben ankommen, um wie viel Uhr kommt bei mir ebenso vor. Ihre Briefe, die ich stets empfange wie damals den Vergissmeinnichtstrauss des Freundes am elften August, kommen früh 8 Uhr; da bin ich aber schon fort, komme aber um 10 Uhr heim. Der erste Blick auf den Tisch sagt mir, woran ich bin! (Sie lasen meine Zeilen nicht ganz genau: ich schrieb: wie reich ist, wer Andern eine solche Freude machen kann!) Ja, dabei bleibe ich trotz Ihrer Einwendungen, d. h. Ihr Geist (der aber hier nicht verneint!) ist für mich reich; er kann mir Freude geben, wie Niemand sonst - ich übertreibe nicht - wie Niemand sonst auf der Welt. Ein Brief von Ihnen ist mir theurer als ein künstlerischer Erfolg, heisse er wie er wolle. Da darf ich also doch schreiben: wie reich ist, wer Andern solche Freude bereiten kann! (Sie aber lasen: wie reich ist, wer Andern Freude machen kann. Das ist etwas Alltägliches und Selbstverständliches, und zeigt nicht den von mir gewollten Sinn an.) Bitte mir diese Stelle, die warm vom Herzen kommt, nicht zu verneinen. -

 

8. 12. 00

Wenn Jemand, der Sie genau kennen muss, behauptet, Sie seien "der Geist, der stets verneint", so gibt mir das doch zu denken; - etwas Widerspruchsgeist habe ich zwar auch vermuthet, aber dass es so arg ist, will und kann ich nicht glauben. Sie sind mir also nach wie vor eine gütige Freundin, und keine Katharina in des unsterblichen Shakespeare's "The taming of the shrew", bis Sie mich vom Gegentheil überzeugen. - Warum aber waren Sie ungehalten, als man sie "selbstlos" nannte? Wenn Sie mich so nennen würden, so wäre ich stolz darauf, eine meiner besseren Eigenschaften gewürdigt zu sehen und Sie waren fast beleidigt! Etwas mir Rätselhaftes (im guten Sinn) liegt in Ihrem Charakter; aber so viel ich darüber schon nachgedacht, bring ich es doch nicht heraus. Als ich letzthin Ihre Briefe im Zusammenhang las, fiel es mir auch wieder auf. In Ihrem letzten Briefe nannten Sie mich einen "Menschenkenner" - für gewöhnlich mag das eintreffen, es kommen. aber leider doch Fälle vor, wo man irre wird. Denken Sie an meinen lieben guten Prof. Maier, der sonst ein ganz ungewöhnlich gescheidter Mann war. Sollte er am Ende Recht, und meine Frau sich geirrt haben? Das macht mich bedenklich; ich werde mich jetzt täglich mit Thermometer auf die Eiseskälte meines Verstandes prüfen. - Wir haben heute (8. Dez.) Feiertag - "Mariä Empfängnis" - und damit ist Ihnen auch erklärt, dass meine sonstige Arbeitszeit diesem, Ihrem Briefe gewidmet ist, der Sie auch für die kurzen Gratulationszeilen in Etwas entschädigen soll. Es ist mir die grösste Freude, so ziel- und zwanglos mit Ihnen zu plaudern, vom Hundertsten auf das Tausendste zu kommen und da und dort an Ihre Bemerkungen anzuknüpfen. Führen Sie nicht mehr Tagebuch? an Ihrer Stelle würde ich's nicht vernachlässigen, denn es hat Vieles für sich! Für mich lohnt's sich's freilich nicht mehr der Mühe - ich bin vielmehr auf's Vernichten und Verbrennen angewiesen. Ihre lieben Briefe werden aber sorgfältig aufgehoben, auch die Couverts; jede Zeile Ihrer lieben Hand ist mir theuer. Und wenn ich einmal Alles vernichten muss, wird es eine tief schmerzliche Stunde sein - möge das recht ferne, ferne sein! Und doch soll man täglich auch daran denken um nicht überrascht zu werden. "Wie eine Blume verwelkt, wie ein Traum vergeht und zerfliesst der Mensch!" Dieser schöne Spruch des hl. Damasus, der am 11. Dez. gefeiert wird, soll einst auf meiner Gruft angebracht werden. -

Durch Jahrzehnte war ich gewohnt, Abends nach Tisch bei einer Zigarre eine Schachpartie zu spielen. Fanny spielte sehr gut, auch Olga zeigte Talent dazu. Abgesehen von dem Interesse für dies geistvolle Spiel diente es auch zum Ausruhen für die durch Lesen und Schreiben ermüdeten Augen, sodann die gewaltsame Konzentration der Gedanken führten es auf ein fremdes Feld. Gerade darum vermisse ich das schöne Spiel sehr, und bin nun auf das Lesen allein angewiesen. Auch das Ausmustern und Vernichten alter Briefe gewährt hie und da melancholische Zerstreuung. Längst entschlafene Freunde und Freundinnen werden wieder wach, vergessene Namen tauchen wieder auf, Leiden und Freuden werden begraben, trügerische Hoffnungen kühl belächelt - Alles zergehend und zerfliessend wie ein ferner Traum! Man kommt sich halb gestorben vor und fühlt sich nur durch wenige Fäden an die Wirklichkeit gefesselt - an jedem Tage kann durch eine Enttäuschung wieder eines dieser Bande zerrissen und die allmählige Erkaltung des einst so heissen Herzens vorbereiten. - Das ist wohl die unausbleibliche Konsequenz der Einsamkeit! ich muss mich damit abfinden können; ich kann es auch ohne Bitterkeit! Weit aus die grösste Zahl der Menschen strebt unwillkürlich nach einem unerreichbaren Glück und mancher hofft noch sterbend es zu erhaschen. Welch ein Glück für den Menschen, dass bei allem Verstande sein Herz dennoch thöricht bleibt! Unser lieber Dichter hat Recht: "In die Zukunft muss ich sehen - Immer ahnungsvoll - Und ich glaube zu versteh'n - Was es werden soll!" Genug von diesem schwermüthigen Thema! Ursprünglich wollte ich meiner theuren Freundin zum Geburtstag einen recht heiteren Brief schreiben, was ich sonst so gut konnte; allein es wollte nicht gelingen und so unterliess ich es besser. -

 

9. 12.

Die Ausstellung der Werke meines Freundes Defregger[3] (der ein lieber, gemüthlicher Mensch ist) haben Sie wohl nicht besucht? Vielleicht ist Ihnen seine Art nicht so sympathisch, weil nicht in moderner Empfindung wurzelnd; ich hab ihn und seine Bilder gern. Die moderne Maler-Jugend rechnet ihn schon zu den Todten, in Berlin wie in München. Man ist jetzt überhaupt schnell todt; Mancher ist es schon längst und merkt es nur nicht. So war es auch mit meinem jüngst verunglückten Freunde Anton Seitz[4], der vielleicht der bedeutendste Kleinmaler Deutschlands war. Als ich ihn noch vor 4 Wochen nach seinem Befinden frug, sagte er mit feinem Lächeln: "Ja wissen Sie denn nicht, dass ich schon lange todt bin?" Der Musikschriftsteller Otto Schmid[5] war oder ist weder meiner verstorbenen Frau noch mir persönlich bekannt. Er hatte grosses Interesse für meine Kompositionen gefasst und theilte mir dann seine Absicht mit, eine Besprechung derselben nebst Biographie meiner Wenigkeit zu schreiben. Das Letztere war mir nun gar nicht recht. Er aber wandte sich an Fanny, die er für den Plan zu gewinnen wusste und ihm reichlich Material lieferte; dadurch kam er in Briefwechsel mit ihr und schrieb dann auch einen kleinen herzlichen Nachruf. Für das Andere, meinte ich, wäre nach meinem Ableben Zeit, wenn dann überhaupt noch ein Interesse vorhanden sei. Hat da der Brummbär nicht richtig gebrummt? -

In dem Festkleide bei grossen Gesellschaften würde ich Sie gar nicht wieder erkennen? Sie trauen mir doch wenig Scharfblick zu: in jeder Verkleidung würde ich Sie augenblicklich an der charakteristischen Kopfhaltung erkennen und wenn Sie sich noch so sehr incognito geberden würden. Aber allerdings stelle ich mir meine hohe Gebieterin lieber unter dem Baume im Herzogswäldchen vor, wo ich Sie oft, leider nur von ferne sah. Wäre ich doch keck immer hingegangen! ja, jetzt nachträglich habe ich "gut reden" - doch ist das weisse Kleid unter dem grünen Baum an dem rauschenden Bach für mein Erinnern das Normale - und wird es wohl auch bleiben. Die grossen Gesellschaften, die ich früher auch frequentieren musste, waren mir immer verhasst. Man ist da so unaufrichtig und lügt wohl auch ein wenig konventionell, denn so mannhaft mit der Wahrheit dreinzufahren wie weiland Otto Scherzer wird nicht immer genügend gewürdigt. Ja, Otto der Wahrhaftige beschämte unsere ganze Kultur. Einmal fiel es ihm ein, dass es eines deutschen Mannes unwürdig sei, bei Tische Silber und Porzellan zu gebrauchen; nur Holz und Zinn fand Gnade zur Verzweiflung seiner besseren Hälfte, die dann in die unangenehme Situation kam, etwaige Gäste (Kaffeekränzchen!) mit hölzernen Schalen und ditto Löffeln und Gabeln zu traktieren. Ja, mit dem Heiraten soll man vorsichtig sein, nicht zu schnell "ja" sagen, sondern lieber den Geist, der gern verneint zu Hilfe rufen. In dem Buche, das die Witwe herausgab, steht wohl nichts von alledem. Ich sah Scherzer's öfter bei meinem Prof. Maier, der mir alles Gemüth absprach. Ob er's noch thun würde?

 

9.12.

Somit ist mein Brief glücklich bei der elften Seite angelangt - noch dazu so eng geschrieben! Von nun an also werden die Briefe mit den wachsenden Tagen kürzer. Bitte aber daraus keine falschen Schlüsse zu ziehen. Heute sandte ich die Bilder für Ihren Geburtstag ab; ich bitte, dieselben freundlich anzunehmen und nachsichtig zu beurtheilen. Die ungeschickte Verpackung wurde nachträglich durch das Postamt veranlasst. Den kurzen Begleitbrief werden Sie wohl gleichzeitig erhalten. - Mögen Sie dies Ihr eigenstes Fest noch unzählige male in vollem Glücke feiern und dabei ein wenig desjenigen gedenken, dem Sie so Viel waren. - Heute Mittags hatte ich an der Akademie mit den Schülern eine Probe meiner Ouverture zur "Zähmung der Widerspänstigen"[6], - das junge Orchester spielte so feurig, dass das widerspänstige Käthchen gründlich gezähmt wurde und schliesslich zum "Geist wurde, der Alles bejaht". Der starke Orchesterklang wird mir aber den ganzen Tag lang in den Nerven liegen. Ich habe das Stück beim ersten Aufenthalt in Kreuth (1866) geschrieben - und glaubte noch frische Alpenluft darin zu spüren, was aber natürlich Einbildung war. Damals war ein junger, höchst liebenswürdiger Wiener[7] mein Zimmernachbar; nebenbei war er Musikenthusiast, vortrefflicher Klavierspieler und so setzte ich obige Ouverture auch für uns zu 4 Händen. Als ich 1868 mit Fanny in Wien war (in Musikangelegenheit) beschämte er und seine Familie uns ordentlich mit Aufmerksamkeiten. Zu dem 25jährigen Kreuth-Jubiläum 1891 (das für mich so traurig endete) kam er mit Frau und fünf Kindern und will auch zu dem 50jährigen im Jahr 1916 kommen!!! Ist das nicht echter wiener Optimismus? Die Leute dort sind überhaupt von solch liebenswürdiger Leichtlebigkeit (besonders Künstlern gegenüber), dass wir Münchner uns ganz derb und schwerfällig vorkommen; nur in Prag fanden wir's ähnlich. Diese überschäumende Zuvorkommenheit war mir von je unbehaglich und genant. Übrigens ist Wien besonders im Frühjahr wundervoll schön; doch möchte ich nicht für immer dort leben; es pulsiert Alles zu rasch und aufreibend.

 

Abends.

Jetzt ist wieder die mir liebste Zeit; Ruhe, Wärme, Behaglichkeit - nur Freund Timur sucht sich bemerkbar zu machen; da er keine Gegenliebe findet, zieht er sich auf sein Lager zurück. Von Ihrem Hunde Treu berichten Sie niemals - ist er seines schönen Namens nicht mehr werth? Führen Sie ihn an der Leine spazieren? Fanny hatte die grossen Hunde sehr lieb; wir hatten immer welche. -

Wenn dieser Riesenbrief so gross geworden ist, dass Sie ihn kaum bewältigen oder gar ganz beantworten können, so ist meine theure Freundin selber daran Schuld. Ich bin gewohnt Ihre Briefe öfter zu lesen (wie oft, das ist mein Geheimnis!) und da finde ich immer wieder Etwas, das mir nicht ganz klar ist, da ich nicht jederzeit den scharfen Verstand besitze, den mir mein lieber Prof. Maier aufoktroierte. Um Ihnen aber nicht lästig zu fallen, frage ich nicht jedesmal und tappe dann im Dunkeln als ächter Brummbär. Sie schreiben z. B.: "Man soll versuchen, den Andern aus ihm selbst heraus zu verstehen und zu beurtheilen, ihn anzusehen, wie er ist, nicht mit Zusätzen, die Wunsch oder Fantasie ihm andichten. Nichts trauriger, als wenn man auf solche Weise einen "Menschen" verlieren muss - ich meine, wenn man einsehen muss, dass man sich in ihm getäuscht hat." - Da sitze ich nun, ich armer Ödipus! Gilt das mir Ihnen gegenüber, oder gilt es Ihnen selbst, mir gegenüber? Haben Sie sich in mir, oder ich mich in Ihnen getäuscht? - Ich soll Sie ansehen wie Sie sind, nicht mit Zusätzen, die Wunsch oder Fantasie ihm andichten. Ich glaube denn doch, dass Sie hier Unmögliches verlangen und sehr kühl von der Freundschaft denken; ich muss mir Ihr Bild nur aus Ihren Briefen bilden, und wenn Wunsch und Fantasie hier (im guten Sinne) mitarbeiten, so sollte Ihnen das doch sympatischer sein, als das Gegentheil - und dann der Nachsatz: "nichts trauriger". Oder gilt der ganze Satz nicht uns beiden, sondern Fremden? Das wäre mir am liebsten - und lassen Sie mir das bischen "Wunsch" und das bischen "Fantasie", das kleine selbst geträumte Glück - man kann in dem praktischen, kalten und poesielosen Leben dergleichen nicht entbehren - ich wenigstens nicht. Mir waren Sie ideal und sollen es noch bleiben - und ich sehe mit Schrecken die zwölfte Seite schwinden! Nicht wahr, wir wollen uns nicht muthwillig streiten - ich halte Sie so hoch, nicht aus "Wunsch" oder "Fantasie" - sondern weil ich es von Anfang an musste; ich glaube, das dies das Rechte ist! -

Jetzt glaube ich so ziemlich Alles geschrieben zu haben, was ich auf dem Herzen hatte, d. h. was davon "schreibbar" ist - wird Ihnen schliesslich nicht schwindlig von der Masse? Aber Sie sehen auch daraus, wie sehr mir daran liegt, dass keine Missverständnisse und Vorurtheile unsere Freundschaft, die doch Anderen unverständlich sein würde, trüben möge. Am 11.ten wollen Sie mir Ihre Erstlingsphotographien schicken; das ist lieb und aufmerksam, wie Alles, was von Ihnen kommt. Das warte ich noch ab und schicke dann den grössten aller Briefe, die ich je geschrieben, ab. Möge er Ihnen Freude machen!

 

10. 12.

Bei einem Besuche auf dem Kunstverein fand ich zu meiner Überraschung das von Goldberg elegant gemalte Porträt unseres Kreuther Tischgenossen, Ihres "salatspendenden" Freundes Geh. Kommerzienrathes Gerhard Meyer aus Hannover. Es freute mich doch, wie Alles, das mich an jene liebe Zeit erinnert. -

Hoffentlich bringt Ihnen der morgige Tag (11. Dez.) mehr Freude, als mir, denn gerade Dienstags habe ich immer am meisten zu thun - dazu noch eine endlose, langweilige Sitzung und Abends noch ein Conzert, von dem ich mich wo möglich frei machen will. Lärmende Orchestermusik thut mir oft unglaublich weh. Dagegen bekomme ich morgen von Ihnen Ihre photographischen Erstlinge, auf die ich sehr gespannt bin. Es thut mir nun so sehr leid, dass Sie an einem solchen Tage, wo Sie ohnedem viel zu thun haben werden, sich meinetwegen noch bemühen - ich kann das nicht ändern und andererseits freut's "mich doch"! So ist der Mensch - immer voll Widerspruch! Es wäre möglich, dass dieser Brief der letzte vor Neujahr sein würde - würde mir dies meine theure Freudin übel nehmen? Ich wäre deswegen in Gedanken nicht weniger bei Ihnen, vielleicht noch umsomehr, als ich an den regen Verkehr schon so sehr gewöhnt bin. Doch muss ich auch bedenken, dass Sie in dieser Zeit wohl von gar vielen Seiten in Anspruch genommen sein werden und es grausam von mir wäre, längere Briefe von Ihnen zu erwarten. Oder hätte ich das nicht schreiben sollen? könnten Sie dies missverstehen? Sie wissen ja, wie theuer mir jede Zeile von Ihnen ist; jetzt mehr als je - und schreiben Sie, wie es Ihnen bequem ist. - Der Brief ist nun so lang geworden, dass ich befürchten muss, dass Sie ihn gar nicht zu Ende lesen - über Autographenmangel (meinerseits) werden Sie sich wohl längst nicht mehr beklagt haben, eher über die unglaublich leichtfertige Art meiner Stylisierung, wenn man hier noch von einer solchen sprechen kann.

 

11. 12.

"Ein tiefer Sinn liegt oft im kind'schen Spiele" - dachte ich mir, Ihren mir freundlichst dedizierten Cambino erblickend: "è veramente un angelino e senza unghie" im Gegensatz zu Scherzer's Sopherl'! Wenn das wirklich das opus 1 Ihrer Schattenkunst ist, so verdienen Sie alle Aufmunterung! (Die Ähnlichkeit mit meiner hohen Gebieterin ist allerdings nicht mehr gross, denn 20 Jahre mehr oder weniger machen auch bei Damen in diesem Alter etwas aus - Sie werden sagen, wenn Sie mein Bild von vor 30 Jahren sahen: auch bei Männern.) Übrigens ist's ein reizendes Bild des Andre della Robbia, und das leicht geöffnete Mündchen deutet schon auf den später so entwickelten Widerspruchsgeist, der gern verneint! Danke!

Wie kommt es denn, dass Sie und Frl. E. Rintelen, obschon so nahe wohnend, sich nie begegnen? Ich weiss gewiss, dass ich als Bewohner der Friedrich-Wilhelmstrasse täglich die Freude hätte, meine hochverehrte Freundin zu begegnen; ich würde mir es nämlich ganz einfach so einrichten. Da genannte Dame (wie ich bestimmt weiss) Sie hoch verehrt, so ist das noch sonderbarer. - Nun es Abend Ihres Geburtstages ist, so versetze ich mich im Geiste noch einmal glückwünschend in Ihr Haus und hoffe, dass Ihnen dieser Tag nur frohe Stunden gebracht haben möge! Dieser endlose Brief wird Ihnen sagen, dass ich nur zu viel an Sie gedacht habe - wusste ich doch vorahnend in Kreuth, dass ich viel würde an meine verehrte Freundin denken müssen. Poetisch angelegte Naturen haben häufig auch die Gabe der Prophetie; ich leider auch, wie ich schon öfter erfahren habe; nur mache ich nicht gerne Gebrauch davon. Fanny hatte die Gabe der Vorahnung in einem fast unheimlichen Grade; was sie voraussagte, traf immer, auch in unwahrscheinlichen Fällen, ein. Das Seelenleben bietet überhaupt so viel des Rätselhaften, wie ich selbst erfahren habe, dass man mit Zweifeln und Negieren allein nicht mehr durchkommt; Ereignisse werfen ihre Schatten voraus und Leute mit hoch gesteigerter Nervosität nehmen sie eben früher wahr als weniger Disponierte. -

Heute gedachte ich auch mit Wehmuth unseres lieben Freundes Völderndorff, der sein "Jettele" so hoch schätzte. Er war mir besonders lieb als Mann von seltener Vorurtheilslosigkeit und Gutherzigkeit: schade, dass er in seiner Ehe nicht viel Glück gefunden hatte. Wenn ich an seinem Grabe vorüberkomme, widme ich ihm immer ein herzliches Memento. - Wenn meine theure Freundin diesen Brief, wie ich hoffe, Donnerstag Früh zum Kaffee (oder frühstücken Sie Thee?) bekommt und zu lesen beginnt, so kann sie vor Abend 8 Uhr nicht zu Ende kommen!

Nie wieder so grausam zu sein verspricht Ihnen hiemit feierlichst
Ihr treuester Verehrer und alter Freund

Jos. Rheinberger

München, den 11. 12. 1900 Abends ½ 8 Uhr.

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[1] seine berühmten «Siebenrabenbilder» = Das Bild «Die sieben Raben» (mit Rahmenszenen) von Moritz von Schwind (1804-1871) nach dem Märchen der Brüder Grimm, gemalt 1857, regte Rheinberger 1860 zur Komposition seiner gleichnamigen Oper an.

[2] ... sondern Romanin = Rheinbergers Mutter Maria Elisabeth, geb. Carigiet (1801-1873), stammte aus Disentis, dem romanischen Teil des schweizerischen Kantons Graubünden.

[3] meines Freundes Defregger= Franz (von) Defregger (1835- 1921), Kunstmaler

[4] Anton Seitz = Mitglied der grossen Malerfamilie Seitz in München.

[5] Musikschriftsteller Otto Schmid= (1858-1931) u.a. Musikkritiker des «Dresdener Journals» und der sächsischen Staatszeitung».

[6] Ouvertüre zur «2dhmung der Widerspänstigen» = op. 18, 1. Fassung komp. in Wildbad Kreuth 1866,2. Fassung 1868.

[7] ... höchst liebenswürdiger Wiener= Johnie Mayer, Freund Rheinbergers (vgl. «Musikalischer Scherzbrief> vom 11. 1.1874 in Bd. V, S. 205 ff)