Rheinberger über seine caritativen Tätigkeiten, den Besuch einer amerikanischen Dame, den Tod seiner Gemahlin und Neujahr...


München, den 30. 12.00

Verehrteste, theure Freundin!

Wie zart und fein empfunden war es von Ihnen, mir gleich nach Empfang meines Briefes "von Trafoi" aus Schönwetter zu signalisieren - möge dasselbe anhalten bis alle "Achtzehn" den Vortritt hatten! Schon seit dem 14. August klingt "Trafoi" (tres fontes) meinem Ohre wie Musik - und sogleich findet sich bei mir der Poet ein, der die drei Quellen des menschlichen Glückes: Religion, Liebe und Kunst benennt. Zwar werden die meisten der dortigen Touristen: gute Verpflegung, schöne Aussicht und gut Wetter vorziehen - das sind aber Phäaken und keine Künstler! Ich sitze nun hier bis über die Ohren in Neujahrskarten und Briefen vergraben und würde die schöne liebe Zeit besser ausnützen - Sie wissen wohl, wie - aber das Meiste muss halt doch beantwortet werden, wenn man nicht "grob" gescholten werden will! -

Sie werden erstaunt sein zu hören, dass Sie hier in München wohlthätig wirken. Die Sache verhält sich so: ich stehe hier in dem Ruf einer gewissen Gutherzigkeit, und da ich noch dazu familienlos bin, so kommen an mich so viele Anforderungen, dass ich beim besten Willen nicht einmal die Hälfte berücksichtigen kann. Wer aber das Glück hat sich an einem Tage an mich zu wenden, an welchem ich einen Brief aus der Thiergartenstrasse erhalten, den kann ich nicht zurückweisen, das brächte ich nicht übers Herz! Sie sehen daraus, dass Ihre lieben Briefe nicht mir allein wohlthun. - Das beiliegende Winteridyll ist eine Frucht der schlaflosen Christnacht - die Gedanken wälzen sich da durcheinander; sie sind mehr Traumeswirren, Stimmungsbilder, Phantasiestücke, die an Reales anknüpfen und sich in's Unberechenbare fortsetzen - sollte Ihnen Manches zu dunkel gefärbt erscheinen, so bitte ich herzlich, mir zu verzeihen, es war mit keinem Wort beabsichtigt, Ihnen weh zu thun; Sie sollen daraus nur das herzliche hohe Interesse ersehen, welches in mir vibriert in Allem, was meine theure Freundin betrifft. Bitte, lesen Sie es ungestört und in einem Zuge bis zu Ende. -

Die Musik vermittelt manchmal merkwürdige Beziehungen. Heute liess mich die Prinzess Ludwig-Ferdinand[1] zu sich bitten; ich konnte mir nicht denken warum. Bei ihr war eine amerikanische Dame, Vorsteherin der St. Mary's Akademie (für junge Damen) in Nauvoo, die mir erzählte, dass in ihrer Anstalt sehr viele meiner Compositionen gespielt würden, und zwar besonders gern von vier jungen Damen meines Namens, die auch gerne wüssten, ob sie mir verwandt seien. Und so baten sie die Direktorin, wenn sie zufällig nach München komme, mich aufzusuchen und darnach auszuforschen. Dank meines vortrefflichen Gedächtnisses erinnerte ich mich dunkel an einen Vetter, der Mitte vierziger Jahre nach Amerika gegangen, dann vergessen und verschollen war. Einige mir noch erinnerliche besondere Umstände stellten nun klar, dass dieser damals junge Mann wirklich der Grossvater der jungen Damen war und ich also vier neue Cousinen (die sehr nett sein sollen) auf einmal bekommen habe.

Hänschen, das vorlaute, frug mich, ob man alle in Briefen gestellten Fragen beantworten müsste? "Natürlich". "Aber H. H. hat doch meine Frage, ob sie Kaffee oder Thee frühstücke, gar nicht beantwortet." "Das steht dir auch nicht zu, so neugierig zu sein." "Aber ich habe gemeint, das gehöre doch mit zum Kuchen!" - So ist mit den Kleinen kein Fertigwerden - gleichviel ob's Hänschen oder Gänschen - sie wollen eben Alles wissen. -

Sie werden nun wohl von den Weihnachtsanstrengungen ausruhen und ich sehe leider die Feiertage sich bedenklich mindern, indem am 3. Januar die Tretmühle der Alltäglichkeit, die mir immer zuwiderer wird, ihre Thätigkeit wieder aufnimmt. Wenn ich auf frühere Jahre zurücksehe, und die Summe von Arbeit überdenke, die damals auf mir lastete, so bin ich jetzt allerdings der "reinste Privatier" - aber zu spät.

Miez hat mich dringend gebeten, mit dem fünfzigsten Jahre die öffentliche Thätigkeit ganz aufzugeben, um nur mehr der Komposition zu leben - hätte ich ihr doch gefolgt und dadurch etwas mehr Gesundheit gerettet! Man soll überhaupt mehr den Frauen folgen; sie sind in gar vieler Hinsicht gescheidter als wir sogenannten "Herren der Schöpfung". Otto der Wahrhaftige aber dachte anders. Eines Abends, als er und noch mehrere (auch ich) bei meinem alten Prof. Maier war, kam die Rede auf die Frauenemanzipation. Otto's Frau meinte, etwas mehr Spielraum könnte man den Frauen wohl gönnen. Otto hatte mit steigendem Zorn zugehört, schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie seiner besseren Hälfte zu: "Weib, schweige! Vergiss nicht, dass der Mann das Licht und die Krone der Schöpfung ist!" Natürlich schallendes Gelächter von uns Andern, worüber er sich sehr verwundert umsah. - .

Wie wenig oft der Prophet im eigenen Lande gilt, habe ich soeben bemerkt: Eine mir schon länger befreundete junge Dame von ungewöhnlicher Bildung und scharfem Urtheil in Allem was Kunst und Wissenschaft anbetrifft, brachte mir heute ein entlehntes Buch (Bekenntnisse Augustin's) zurück. Wir kamen auf Poesie zu reden und ich erwähnte, dass ich Greif immer höher schätzen lerne - "Greif - Greif? ich glaube den Namen einmal gehört zu haben - lebt der hier?" Armer Martinus! Gegenstück: Vor etwa 30 Jahren war eine damals junge, auch musikalisch hoch gebildete Dame aus Berlin (Tochter eines Ministers) meine Tischnachbarin; sie erzählte viel von den schönen musikalischen Abenden in ihrem häuslichen Kreise, und frug mich schliesslich, welchen von den (damaligen) berliner Komponisten ich am höchsten schätze? "Der bedeutendste ist jedenfalls Friedrich Kiel"[2]. - Sie hatte den Namen nie nennen gehört! -

 

Eben bekomme ich wieder eine ganze Ladung von Briefen und Karten. Die einzig ersehnte Handschrift ist nicht darunter, - Geduld bis morgen! Ach! Wie hat mich meine hohe Gebieterin verwöhnt! Wie rasch spielt da die Fantasie! Bei dem Reisebriefverkehr um Weihnacht und Neujahr - wie leicht kann da ein Brief verlorengehen! Schrecklicher Gedanke; wenn das Einer von denen wäre, die mich so hoch beglücken! Warum schreiben Sie immer Ihre Adresse auf die Rückseite? Soll ich das auch so machen? Wenn nun morgen kein Brief kommt, so schwillt dieser am Ende auch wieder bis zu zwölf Seiten an. Arme H. H., die sich vor lauter Autographen nicht mehr zu retten weiss!

Nach meinem trübseligen, einsamen five-o-clock-tea, der in zehn Minuten zu Ende ist, ertheile ich meinem Blüthner das Wort, der mir von Allem erzählen muss, was mir lieb und theuer ist; wir sind jetzt schon so gut zusammen gewöhnt, als ob wir Alles zusammen erlebt hätten und kennen uns doch erst vier Monate. Leider aber kann meine Rechte nicht mehr den Grad von Kraft erreichen, den sie in jungen Jahren hatte, aber immerhin ist es fast ein Wunder, dass es noch so geworden. Gerade vor mir habe ich Ihr kleines Stuttgarterbild, das ich bei seiner Gemüthlichkeit und Bescheidenheit so gern habe. - Bei "Bescheidenheit" fällt mir die benachbarte "Demuth", und bei dieser Ihre neue Freundin Frl. Sch... ein, die mich besonders interessiert, dieser bei sonstigen glänzenden Eigenschaften so seltenen Tugend wegen. Sie schreiben aber niemals von ihr. - Frl. Poiger hat mir gestern aus Abbazia geschrieben - daraus schliesse ich. dass sie wohl gedenkt, im Sommer wieder nach Kreuth zu kommen. Dass ich an dieses liebe Nest jeden Tag denken muss - was mag da wohl schuld sein?

 

30. 12. 00.

Heute vor acht Jahren verliess die edelste Seele, die ich je gekannt, diese Welt. In der Nacht 3 Uhr pochte die zartfühlende, aufopfernde, barmherzige Schwester leise an die Türe meines Schlafzimmers und sagte: "Kommen Sie herüber - sie ist jetzt im Himmel!" Was ich da fühlte, als ein fünf-und zwanzigjähriges Glück - ein ungetrübtes - über mir zusammenstürzte, ist nicht zu beschreiben! ich gab ihr das gewünschte Sterbekreuzchen in die noch warme Hand und drückte die lieben treuen Augen zu - der Gesichtsausdruck wurde trotz der langen schrecklichen Leiden so sanft und freundlich wie je im Leben. -

Heute Abend zu ungewöhnlicher Zeit ihr lieber wunderbar herzlicher Brief, für den ich jetzt nur danken kann! Wie mir das Alles zum Herzen spricht - wie nur Sie allein auf der Welt es verstehen, mich auf's Tiefste zu bewegen und zu rühren! Welche Fülle von guten Eigenschaften müssen in Ihrem Geiste vereint sein, um durch Worte allein schon so auf mich einzuwirken! Ich wüsste das jederzeit zu würdigen, wenn ich auch nicht wie heute begreiflicherweise weich gestimmt wäre!

 

31. 12.

In Betreff des beiliegenden Idyll's bitte ich Sie dringend dasselbe nur als das zu betrachten, was es ist: ein Durcheinander von Stimmungen und Gedanken, zum Theil selbstquälerischer Art, wie sie in schlaflosen Nächten wie Alpdruck das Gemüth belasten. Die Stelle welche mich betrübte, war: "Nicht darauf kommt es an, was man glaubt, sondern wie man glaubt" - Sie werden zugeben müssen, dass mich der Vordersatz betrüben musste, aber ich sehe ein, dass im Zusammenhang mit Ihrem heutigen unaussprechlich lieben Briefe es nicht den anscheinend so argen Sinn haben konnte. Verzeihen Sie meinem Misstrauen: wer schon Liebes verloren hat, möchte eben immer sicher gehen und die Seele, der es gleichgültig wäre, was man glaubt, wäre mir verloren. Ist es jetzt gut? Wenn in dem Idyll irgend etwas vorkommt, was Sie momentan betrüben könnte, so bitte ich das getrost auf die Schultern des "jungen Freundes" abzuwälzen (der ist ja dazu da!) und der wird es dann schon mit mir ausmachen. Ist es recht so? -

Ihr heutiger Brief ist wohl der schönste unter seinen schönen Vorgängern und - schattenlos! ich werde ihn Punkt für Punkt beantworten - zum Theil noch in diesem und sodann in meinem nächsten Briefe. Und nun kommen die häuslichen Neujahrsgeschäfte.

Ihre reizende Weihnachtsbeschreibung, Freude der Kinder betreffend, erinnerte mich lebhaft an meine früheste Jugend. Man lässt bei uns die Kinder gerne bis zu 7-8 Jahren in dem Glauben, dass das Christkind höchst persönlich die Gaben bringe, die auf einem Wägelchen, von einem Eselein gezogen, sich befinden. Man hält es für roh, die Kinder zu früh darüber aufzuklären. Nun war ich leider ein sehr frühreifer Junge und die Sache schien mir zweifelhaft; selbst den Einzug des Eseleins konnte ich nicht sehen, da ich in der Mitternachtsmette die - Orgel spielen musste! Da holte ich noch zuvor einen kleinen Bund Heu und ein Schüsselchen mit Salz - die wurden unter die Bank bei der Hausthür gesteckt -, kam nun wirklich das Eselein, so frass es sicher das Heu und schleckte das Salz auf. Richtig, als ich nach der Mette bei der Bank nachschaute, war das Heu weg und das Salzschüsselchen leer; und unter dem Christbaum befand sich Alles, was ich mir gewünscht: Musikalien und wieder Musikalien! -

Sie meinen, dass man an solchen Tagen zu sehr der Zukunft gedenke, statt sich der Gegenwart zu erfreuen. Wie sehr ist das mein Fall; aber leider habe ich es nie dahin gebracht, meinen Gedanken befehlen zu können; wie sehr sind Jene zu beneiden, die das zu Stande bringen! Wenn das neue Sopha und die Neutapezierung Ihres Zimmers die von meiner verehrten Freundin angedeutete Beziehung hat, so ist das mir mehr als interessant; mögen Sie so lange als möglich als guter Genius des Hauses dort weilen und walten! -

Wie sollte mich in dieser traurigen Zeit ein Brief von Ihnen stören, der doch mir das Tröstendste ist! als ich heute früh auf dem Grabe aussen war, konnte ich ja auch ohne Unrecht Ihrer so herzlichen Freundschaft gedenken; auch die verwitterten Überreste Ihrer Blumen waren noch erkennbar:

Sie fragen gelegentlich Ihres Kirchenbesuches, warum Sie nicht öfter solche Weihestunden (des Vertrauens, des Gefühls von Geborgensein ) haben können? Sie wissen, warum es mir schwer fällt, darauf zu antworten - vielmehr darauf nicht zu antworten; und doch ist mir Ihre einfache Frage schon im Herzen sympatisch und Gewähr, dass wir uns in den höchsten Fragen doch noch in vielen Punkten treffen werden. Nicht wahr? Und wenn Sie glauben, dass so manches Ihrer Worte durch den langen Weg bis zu ihrem Empfänger "kalt ankommen werde", so kann ich Sie des Gegentheils versichern - was Sie schreiben, ist so warm, treu und herzlich, dass ich demselben nichts vergleichen kann; ich habe ja so enorm viel zu korrespondieren - in den verschiedensten Angelegenheiten und darf mir hierin schon ein Urtheil zutrauen.

"Ihr Lied" habe ich in dem Sinn für Sie geschrieben, dass sich der Text für das ganze kommende Jahr bewähren möge, - dass alle Zweifel und Beunruhigungen von Ihnen genommen werden möchten und der "süsse Friede" im Leben ausklinge wie in der Musik. Wenn Sie aber bemerken, dass Sie tiefes Gefühl für Musik, aber absolut kein Gehör hätten, so verstehe ich das nicht und meine hohe Gebieterin muss es mir gelegentlich einmal erklären. -

Meine Frau lernte ich schon im Jahr 1857 (allerdings flüchtig) kennen. Sie hatte mich in einem grösseren musikalischen Zirkel, wo ich ihr Lieder am Clavier begleitete, gesehen, und lud mich ein, sie zu besuchen, um zu musizieren, was mir bei ihrer ungewöhnlich schönen Sopranstimme und grossen Fertigkeit auf dem Clavier sehr genussreich war. Dann kam aber ihr Mann in Garnison nach Augsburg; dann gingen sie auf ein Jahr nach Düsseldorf, sodann auf ein Jahr nach Venedig in Urlaub, da Herr von Hoffnaass sehr brustkrank war und 1864 starb. Von dort an machte Fanny ernsthafte musiktheoretische Studien, die 1866 durch Krankheit, (wie Sie bereits wissen) unterbrochen wurden und am 25. April 1867 durch ein zweistimmiges "ja" zum Ende kamen. über die so traurige Feier der silbernen Hochzeit (25.4.92.) werde ich später berichten. Wollen Sie nur immer fragen, was Ihnen wissenswerth erscheint; ich ertheile Ihnen so gerne Antwort und habe Gottlob nichts zu verschweigen; und da die Verewigte die letzten Lebenswochen wieder bei vollster geistiger Gesundheit war, so war der Abschluss ihrer so segenreichen Laufbahn doch versöhnend und harmonisch. -

 

1. Januar 1901.

Drei volle Stunden geschlafen! 0 möchte dies ein gutes Vorzeichen sein. Mein erster Gedanke beim Erwachen war der Wunsch, dass dieses Jahr für Sie ein glückliches sein möge - ganz so, wie Sie sich's wünschen! wie war das im vergangenen Jahr noch Alles anders! Darf man auch wissen, was der "Grapholog" über meine hohe Gebieterin sagte? Ich würde nach deren Schrift auf einen kräftigen, verlässigen und sehr selbstbewussten Charakter schliessen, während das zufällige Unterbrechen der Schriftzüge die angeborene Energie mildert und mehr die herzlichen Eigenschaften zur Geltung kommen lässt. Sie lachen wohl laut über mein Urtheil und haben Recht; ich glaube fest, dass ich niemals eine meiner so hochverehrten Freundin ungünstige Eigenschaft in ihrer mir so theuren Handschrift entdecken werde - es mag dies vielleicht ein Fehler meinerseits sein - aber dieser Fehler sei mir (wie jenes Kind sagte) "ein lieber Wauwaule". -

Und so geht nun hier wirklich wieder die zwölfte enggeschriebene Seite zu Ende und ich werde selbst zu einem Wauwaule! Heute haben wir den ersten Schnee. Den nun fertigen Brief will ich noch einen Tag liegen lassen, da Sie morgen noch in Gratulationen schwimmen werden; aber Donnerstag früh soll er meiner theuren Freundin den ersten Gruss des neuen Jahrhunderts bringen (dem noch viele folgen mögen)

von Ihrem treuen alten Verehrer und Freunde

J. Rh.

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[1] Prinzess Ludwig-Ferdinand = Erzherzogin Maria Theresia Este

[2] Friedrich Kiel = (1821-1885), Komponist, Lehrer an der Kgl. Hochschule in Berlin.