Brief an Henriette Hecker


1. 1. 00. (meint 1901)

Epilog.

Meine theuerste Freundin!

indem ich das Idyll nochmals durchlas, kam ich beinah zu dem Entschluss, es Ihnen gar nicht zuzusenden, aus Furcht, Sie könnten vielleicht an dieser oder jener Äusserung Anstoss nehmen, und mich mit einem längeren Stillschweigen strafen, was ich tief schmerzlich empfinden würde. Ich habe zu dem nicht das geringste Recht, in den höchsten Fragen, welche den denkenden Menschen bewegen, meine Überzeugung aufzudrängen. Sie sind eben in sehr früher Zeit in den religiösen Gährungsprozess eingetreten, der edlen, strebenden Naturen sich fast von selbst darbietet, indem sie Glauben mit Wissen leicht verwechseln. Der Glaube ist eben eine Tugend; das Wissen aber nicht, so wenig als das Hören oder Sehen. Was ich weiss, brauche ich nicht erst zu. glauben - dabei wäre ja gar kein Verdienst. Wenn ich glaube, so erweise ich Gott jenen schuldigen Tribut des Vertrauens, der das Verhältniss zwischen Schöpfer und Geschöpf klarstellt; wenn ich ihn aber frage, warum soll ich denn an dich glauben? so ist das eben jener Frevel der "modernen" Wissenschaft, die das Göttliche vermenschlichen und das Menschliche vergöttlichen will! - "Lieber Wauwaule" hör doch auf, werden Sie sich denken, und ich will auch aufhören in der festen Überzeugung, dass meine theure Gebieterin in ihrem redlichen Bestreben, das Rechte zu suchen es auch finden wird. Und Sie nehmen mir diesen kleinen Ausflug in das philosophische Gebiet nicht übel, nicht wahr? Dass ich Ihnen dadurch irgendwie zu nahe treten oder gar wehe thun wollte, ist ja ganz ausgeschlossen. - - -

 

1. 1. Abends.

Warum haben Sie geglaubt, dass ich auf Ihre jugendlichen Theaterpläne nicht eingehen würde? Eine Jugendfreundin meiner Frau, die hier im Süden sehr berühmte Schriftstellerin Emilie Ringseis[1], ein hochbegabtes, ja geniales Mädchen hatte auch von jung auf den fast unbezähmbaren Drang zum Theater; sie nahm Unterricht bei der alten berühmten Tragödin Sofie Schröder, die selbst bekannte, selten ein solches Talent gefunden zu haben. Bei Dilettantenvorstellungen überragte sie thurmhoch alle Anderen. Aber den entscheidenden Schritt zur Berufsbühne getraute sie sich doch nicht zu machen, aus vielen, auch religiösen Gründen. Und als sie an einem unserer letzten "Dienstage" deklamiert hatte, sagte sie ganz rauh und leidenschaftlich: "Noch jetzt habe ich Momente, da ich weinen könnte, nicht zum Theater gegangen zu sein!" Sie starb kurz nach Fanny. Trotzdem sage ich, dass es hoch verständig von Ihnen war, diesen Gedanken aufzugeben, wenn ich auch ganz gut verstehen kann, dass das Verzichten wehe thut! Wer aber hätte diese so schmerzliche Erfahrung nicht in irgendeiner Form schon durchgemacht, oder noch durchzumachen? Und wenn man glaubt, im Verzichten Sieger geblieben zu sein, so ist in irgendeinem Winkel des Herzens doch eine fortblutende Stelle geblieben. Sie meinen, ich 3/4 Gemüthsmensch (sagen sie lieber 9/10) würde das nicht begreifen; wohl nur ironisch, denn im Zweikampf zwischen Verstand und Herz unterliegt bei mir immer der Erstere - ohne Ausnahme!

Ich habe geschrieben, dass es ein unerbittlich ehernes Gesetz zu sein scheine, dass der geringste falsche Schritt sich in seinen Konsequenzen räche - Sie geben das nicht zu, und meinen, es gebe in gewissem Sinne keinen "falschen Schritt" - ich kann mir nur denken, dass Sie das in "fatalistischem" Sinne meinen, d. h. es sei dem Menschen vorbestimmt, diesen oder jenen Schritt machen zu müssen - er sei von Gott von vorhinein zur Seligkeit oder zur Verdammniss prädestiniert, möge er thun, was er wolle. Wenn ich nicht irre, so ist das die Lehre von Calvin, wie mir Völderndorff, der geb. Calvinist war, mittheilte. Ich hingegen glaube, dass mir Gott freien Willen gab, gut oder. schlecht zu werden, ich dafür aber auch die volle Verantwortung zu tragen habe. Darüber könnte man nochmal 14 (!) Seiten schreiben, ohne fertig zu werden. Bitte schreiben Sie Ihre Meinung ganz frei (ohne ein weiteres Idyll zu fürchten) - man kann nur von einander lernen, wenn man sich frei äussern kann! Nicht wahr? im Grunde werden wir uns immer verständigen. Und nun muss ich doch zu Ende kommen - die vierzehnte Seite ist wieder voll, und meine theure Freundin hat schliesslich auch Anderes zu thun als mein "Philosophieren" anzuhören. Schliesslich spiele ich mir jetzt "Ihr Lied" vor mit dem Wunsche, dass der Schlussvers des unsterblichen Dichters zur Wahrheit werden möge Ihnen und mir und Allen, die eines guten Willens sind!

In herzlichster Verehrung und Freundschaft

Ihr Jos. Rheinberger

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[1] Schriftstellerin Emilie Ringseis= (1831-1895), Tochter des damals berühmten Arztes und Professors Dr. Johann Nepomuk von Ringseis; schrieb Gedichte und Dramen.