Die zwei mit roter Tinte geschrieben Seiten als Anhang an den Brief vom 27.1.1901


2. 2. Abends
(Die rot gezeichneten 2 Seiten)

Meine theure Freundin!

Da Sie mich selbst aufgefordert haben, die Stelle: ... "um alles in der Welt, wie komme ich dazu - Ihnen das zu schreiben?" zu beantworten, so will ich es thun; bemerke aber, dass ich Ihnen hier nur den ersten, momentanen Eindruck schildere, den sie mir gemacht - natürlich im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden, wo Sie sich "grenzenlos unglücklich und vereinsamt fühlen". Dieses Letztere sich klar zu machen, ist ja Ihr gutes Recht; hier hat Niemand, am wenigsten ich, dareinzureden. Dass Sie es aber in voller Absicht mir schrieben, musste mich wohl verwundern, ja verwunden, wie ich Ihnen schon geschrieben, denn es fühlt sich jene Müdigkeit und Verdrossenheit durch, welche ein Ende machen möchte. Und wie kam das wohl? jedenfalls nicht plötzlich. Sie hatten von Anfang an meinen Einfluss auf Ihr Seelenleben und Ihre Gedankenwelt überschätzt und das kam Ihnen immer mehr zum Bewusstsein. Sie fürchteten sodann Ihre geistige Selbständigkeit einzubüssen und wollten mir deswegen faktisch zeigen, dass meine Ansichten und Anschauungen spurlos abgleiten, daher so manche meiner Fragen nur unklar oder gar nicht beantwortet blieben, oder mit dem fast allen Frauen eigenen Argument erwidert wurden: "So bin ich eben, man muss mich nehmen wie ich bin." Das Alles wirkte nach und nach erkältend auf Sie, und die freudige Sympathie, mit der Sie mich einst begrüssten, musste verblassen und einem nüchternen: "Wo treib ich hin?" Platz machen. Dazu kam das (ganz ungerechtfertigte) Misstrauen über meine religiöse Richtung, die, auf langer und reicher Lebenserfahrung basierend, Ihren für ein so junges Mädchen auffallend skeptischen Ansichten unsympatisch ist. Wenn ich nun auch Letztere im allgemeinen christlichen (nicht konfessionell katholischen) Sinne freundschaftlich zu bekämpfen suchte, so kam das daher, dass ich es bei einem so jungen Mädchen befremdend, ja unnatürlich fand, so früh der dogmatischen (prot.) Religion sich zu entledigen; dass diese Ihre Richtung "angelesen" (nicht durch Erfahrung geworden) war, haben Sie ja in einem früheren Briefe selbst zugestanden. Ungern nun berühre ich diesen Punkt (und nie wieder), da er Ihnen unangenehm und mir schmerzlich ist - es gehört aber diese kleine Exkursion mit zum Ganzen. Und somit schien mir Ihrerseits "der Traum zu Ende" - und der wache, nüchterne Tag mit seinen realen Wünschen (zwar früh aber gewiss nicht ungerechtfertigt) und deren Erfüllung angebrochen. All das verkündeten mir Ihre wenigen Zeilen mit dem fragenden Schluss: "Und wie in aller Welt komme ich dazu, gerade Ihnen das zu schreiben?" Ich glaube Ihnen nun gezeigt zu haben, wie Sie dazu kamen - die Hand auf's Herz: ist's nicht so? Wenn ich früher schon bemerkte, dass jene Zeilen (als an mich gerichtet) mich verwundert, ja verwundet hatten, so ist das nur so zu verstehen, dass sie wohl eine kleine Lektion für mich in dem Sinne enthalten sollten, dass ich meinen geistigen Einfluss auf Sie nicht überschätzen möge; und doch bin ich innerlich überzeugt, dass Sie es vor zwei Monaten noch nicht über's Herz gebracht hätten, es zu thun. Da Sie oft überraschend klar und scharf zu denken und zu urtheilen pflegen, so musste ich doch annehmen, dass Sie jene Worte nicht etwa gedankenlos, sondern sehr durchdacht an mich richteten. - H. von Bülow sagte mir einst: "Sie sind mir ein unbequemer Zuhörer!" und meine gütige Freundin wird sagen: "ein unbequemer Leser". - Wenn man eben so hochverehrt wird, wie meine edle Gebieterin, so muss man halt auch ein bisschen dafür leiden. -

Was ich da Alles so ausführlich geschrieben, war der erste, rasche Eindruck - bei der zweiten Lesung fand ich's doch wesentlich milder, und Ihr lieber Brief milderte den Eindruck noch weiter, so dass ich nun selbst glaube, es sei bei Weitem nicht so arg gemeint gewesen! Es hat also doch sein Schlimmes, zwischen den Zeilen zu lesen! Ein bedeutender Mann der Neuzeit, dessen Autorität Sie zwar nicht anerkennen würden, sagte: "Möchte man doch den Worten Ihre ursprüngliche Bedeutung lassen" - d. h. so recht das Gegentheil von dem Ausspruch des Diplomaten Talleyrand's, dass die Worte nur dafür da seien, die Gedanken zu verbergen! Wir, meine verehrte Freundin und ich, wir wollen es bei deren Spruch: "Klar und wahr" belassen und beiderseits nicht zwischen den Zeilen lesen und "hineingeheimnissen" was nicht entfernt gemeint war, und so werden Sie mir die auf diesem Blatt bestätigte Offenheit nicht übel nehmen!

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