Rheinberger erzält vom Tod seines Freundes Pettenkofer, rügt Henriette wegen ihres Unglaubens und erwähnt, dass er eine starke Idiosynkrasie gegen Butter hat.


München, den 10. 2. 01

(Schirm aufspannen!)

Meine theure Freundin!

Selbst auf die Gefahr hin, dass Sie vor lauter Tanzfreuden kaum mehr Zeit finden, meine Briefe zu Ende zu lesen, setze ich dieselben in gewohnter Weise fort, vielleicht mehr mir als Ihnen zum Genuss. Ich schreibe nämlich an meine ideale Freundin H., gleichviel ob sie mit der wirklichen übereinstimmt oder nicht; nur wenn ein frivol-heraufbeschworener Regenschauer erfolgt, gilt er der Letzteren. Und das wird in diesem Briefe nicht ausbleiben, wenn es Ihnen auch keinen nachhaltigen Eindruck machen wird. Es wäre vielleicht für uns Beide gut, wenn ich jetzt einige Wochen mit Briefen pausierte, um auch Ihnen Zeit zum "ausschnaufen" zu geben, sagt mein gesunder Kopf - aber mein "schlechtes" Herz meint: "um Gotteswillen nicht, denn wer weiss, wie lange ich (das Herz nämlich) noch arbeite." Es wird wie gewöhnlich recht behalten. Ich muss Ihnen hier gestehen, dass diese meine beiden Organe "Deinetwegen" schon oft im Streite lagen, mein lieber, junger Freund! Das Alles ist "arg offenherzig", aber wahr. - Eben erfahre ich, dass mein lieber, väterlicher Freund, der grosse Gelehrte Pettenkofer[1], 84 Jahre alt, gestorben ist; in Folge eines schweren Herzleidens geistig umnachtet, legte er Hand an sich! Es hat mich ergriffen.

 

11. 2. 01.

Theure Freundin! dass Sie nicht freudig, nicht voll und unbedingt, sondern nur zögernd und verklausuliert und mit dem befremdenden Schluss: ("Wer bürgt mir dafür, was das Leben noch aus mir macht?") jenem Bekenntniss zustimmen, nur um mich zur Ruhe zu bringen - allenfalls wie man einem Bittenden, der lästig wird, rasch eine kleine Gabe gibt, damit er weiter gehe oder wenigstens still sei - hat mir weher gethan, als ich es sagen kann: aber ein lästiger Bettler will ich nicht sein, auch nicht um Ihre Seele! Sie haben sich ja jedes Wort überlegt! Ich möchte denn doch wissen, was Sie Höheres kennen? Und da ich eben im Regenschauer bin, erlaube ich mir auf Ihre Auslassungen im vorletzten Brief zu kommen, wo Sie bemerken, dass Sie im Sinne des Dogma's (oder des Consistorium's) gar nicht "Christin" seien! Liebes Kind! für dergleichen sind Sie noch zu jung, zu unreif, - aber Ihre Worte haben mich geradezu eisig berührt - ich dachte unwillkürlich an den so rührenden Spruch des Erlösers am Kreuz: "Vater, verzeih ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun!" Auch Du, mein theurer, theurer Freund, weisst nicht, was Du thust! Möge dieser eisige Schauer Dich nicht mehr berühren - aber - er, der Freund kehrt nicht mehr zu mir zurück - ich wusst' es wohl! Glauben Sie ja nicht, dass mehr Geisteskraft oder gar Geistesgrösse und Studium dazu gehöre, sich den Unglauben zu erwerben, als umgekehrt - nichts ist falscher - der totale Unglaube ist das Wohlfeilste, was es gibt - ja es gehört gar keine Geistesanstrengung dazu, nur böser Wille. Und dieser ist bei Ihnen ganz ausgeschlossen, oder ich müsste an Allem irre werden. Finden Sie sich denn glücklich in der Richtung, die Sie verfolgen? Nein gewiss nicht, und doch könnten Sie's so leicht sein, wenn Sie den Muth hätten, mit jener Richtung zu brechen. Sie sind im Kerne so edel, als der Mensch nur sein kann und sind gewiss aus ursprünglich guter Absicht in ein falsches Geleise gerathen und wenn ich Sie warne auf das Risiko hin, Sie ganz zu verlieren, so will ich auch dieses Opfer bringen! - Genug und übergenug für diesmal - es zittert mir ohnedem die Hand, dass ich kaum zu schreiben vermag.

 

12.2.

"Deinetwegen ist mein Tagwerk ohne Segen und ist schlaflos meine Nacht" - singt Lingg, und er hatte wieder Recht behalten. Wenn ich einmal glaube, durch meine Begründungen Ihnen einigermassen Eindruck gemacht zu haben und mein Herz sich über den kleinsten Erfolg freut, so fallen Sie fast regelmässig in dem nächsten Briefe in Ihren religiösen Indifferentismus zurück, wie Ihr vorletzter Brief mir nur zu deutlich erwies. - Sie behaupten, erst zufrieden zu sein, wenn Sie aus meinen Antworten ersähen, dass ich Ihnen nicht zürne - das ist nicht das rechte Wort, wenn sich mir auch zeitweise Ihr Bild verschleiert zeigt - es ist nicht immer, wie es sich mir in Kreuth so unvergesslich einprägte - das wird auch nicht mehr so kommen! -

Sie glauben von München nach Berlin sei es nur ein Katzensprung - gewiss, aber die Katze muss eben springen können - doch lassen wir dieses Kapitel in der heiteren Faschingszeit, wo Alles was gut springen kann, sich diesem Vergnügen hingibt; ich sehe es sogar gerne, wenn die Fröhlichen fröhlich sind und bin der Letzte, Jemandem den Spass zu verderben.-

Bajazzo kenn' ich nicht - Cavalleria rusticana hat durch die Derbheit der Leidenschaft des Sujet's etwas geradezu Verblüffendes, daher der grosse Erfolg des Stückes bei der grossen Menge; die Musik schliesst sich dem passend an, ohne für sich Werth zu haben, was der durch seine Eitelkeit schon lächerlich gewordene Komponist wohl nicht glauben würde. Da war der jüngst verstorbene Verdi ein anderer Künstler! Wie hatte mich seiner Zeit sein Requiem (bei der ersten Aufführung) ergriffen! Der verband "Realismus" mit Poesie, aber in höherm Sinn; und glaubte was er schrieb! Als ich zwanzig Jahre alt war, beabsichtigte ich ein grosses Requiem zu schreiben; ich teilte dies meinem Freunde und früheren Lehrer mit. Der sagte trocken: "Sie können noch kein Requiem schreiben." "Warum nicht", fuhr ich im Bewusstsein meines technischen Könnens auf. "Weil Sie für diese Aufgabe noch zu jung sind, d. h. weil Sie für die nothwendige Vertiefung dieses Gegenstandes den Ernst und die Erfahrungen des Lebens noch zu wenig auf sich einwirken lassen konnten. " Es kränkte mich ein wenig - 10 Jahre später sah ich ein, wie sehr er Recht hatte.

Oder:

Als H. H. zwanzig Jahre alt war, wurde sie von grosser Zweifelssucht über die Göttlichkeit des Christenthums befallen; sie theilte dies einem alten Freunde mit. Der sagte trocken: "Sie können dergleichen Fragen, Dogmen usw. noch nicht beurtheilen". "Warum nicht?" fuhr sie im Bewusstsein ihres starken Geistes auf. "Weil Sie zur Lösung solcher Fragen, die die grössten Geister aller Zeiten beschäftigten, zu jung und zu unerfahren sind und erst durch die Wandlungen des Lebens die nöthige Reife und Selbständigkeit gewinnen können". Es kränkte sie ein wenig - aber einige Jahre später sah sie ein, wie sehr ihr Freund Recht hatte, und dankte es ihm, d. h. seiner Erinnerung!

 

13. 2. Abends.

(Wieder Sonnenschein!)

Wenn es das Schicksal will, dass ich Sie noch einmal im lieben Herzogwäldchen treffe, werde ich Sie nicht wieder "fortschicken", wie damals, als Sie mich durch Ihre schweigende Folgsamkeit in Verwunderung setzten - nein, das Wetter mag sein, wie es will, so will ich die wenigen Minuten, die mir etwa gegönnt wären, in Ihrer Gesellschaft zu sein, besser ausnützen - zu einem persönlichen, nicht papierenen Plauderviertelstündchen, denn mehr wird es kaum werden; das sehe ich schon voraus. - Da Sie in Ihren letzten Schreiben immer wieder von "heirathen" sprechen, so scheint mir, dass sie stark daran denken; denn ich kann mir doch nicht vorstellen, dass Sie es nur thun, um mir ein Vergnügen zu machen. Nicht? Ich glaube jetzt alle Punkte Ihrer letzten Briefe beantwortet zu haben - gut oder schlimm - Alles durcheinander - so ist's am Praktischsten! -

Nun was Heiteres:

Von jung auf hatte und hab ich eine starke Idiosynkrasie gegen Butter, besonders gegen Butterbrot, während Miez Vorliebe dafür zeigte. Einmal beim Frühstück in Kreuth, das immer sehr einfach war, fiel mir ein, Miez zu fragen, warum sie sich denn keine Butter geben lasse? Ganz traurig erwiderte sie: ja, hast Du es noch gar nicht gemerkt, dass ich mir's schon seit zwei Jahren (Dir zu lieb) abgewöhnt habe, Butter zu essen?" Hänschen, das sich immer darein mischt, wenn von Lebensmitteln die Rede ist, fragt, ob Kätchen in der "Zähmung" dem Petruchio wohl auch dies Opfer gebracht hätte? "Gewiss", meinte ich, "aber erst dann, als sie 'ohne Murren' am hellen Tag den Mond scheinen sah".

Der Regenschauer hat längst aufgehört, - Sie waren aber schon am Schlusse Ihres lieben Briefes so klug, den Regenschirm aufzuspannen - ein paar Tropfen auf dem Regenmantel sind auch schnell abgeschüttelt, und Ihr armer Freund hat wieder einmal vergeblich gearbeitet. -

Als Sie die Cavalleria nannten, dachten Sie wohl nicht daran, dass eine Ideenassociation von derselben zu meiner edlen Gebieterin selbst zurückführen würde und doch ist es so: Cavalleria rusticana, Mascagni, Verdi, Requiem, Rh., Vergleich usw. usw. H. H. Merkwürdig, dergleichen schliesst blitzschnell wie ein elektrischer Funke durchs Gehirn. -

 

14.2.

Ob ich morgen früh doch ein Briefchen von meiner hohen Gebieterin erhalte? Aber ich will keine Schicksalsfrage daraus machen - für einen schriftlichen Gruss von fünf Minuten wird die Zeit wohl gereicht haben! - Vor meiner Verbindung mit Miez brachte ich regelmässig Sonn- und Feiertags die Stunden von 4-6 bei ihr mit Musizieren zu. Schliesslich meinte sie: "Ich bin nur neugierig, was Du nach unserer Heirath nun Sonntag Nachmittags anfangen wirst? Ich dachte nach: "Ja, da wird mir halt nichts übrig bleiben, als in ein Kaffeehaus zu gehen!" Und so wurde es auch gehalten. So ein klein wenig Prosa ist auch nicht ohne - doch das abendliche Wirtshausgehen (eine grosse Schattenseite Münchens) war mir von jeher geradezu ein Greuel. Wir hatten auch ein kleines Billard, auf dem ich selten Sieger blieb; dafür war ich aber im Schach bedeutend "üben". -

Heute Nacht habe ich 4 Stunden geschlafen - das kam seit Jahr und Tag nicht vor, und wird sobald nicht wieder vorkommen; es muss wohl Folge einer grossen Übermüdung (aber nicht etwa des Tanzens!) gewesen sein. Es ist jetzt gewaltig kalt, in Berlin wahrscheinlich ebenso.

 

Den 16.2. Abends.

Lehrs "Ethik und Religion der Griechen" kenne ich zwar nicht - was aber Augustinus (4. Jahrhundert) in seinem klassischen Werke "Bekenntnisse" und "Gottesstaat" über diesen Gegenstand mittheilt und was jedenfalls authentisch ist, eignet sich nicht als Lektüre für Mädchen. Sie können gewiss Passenderes zu lesen finden. Hansjakob ist ein vortrefflicher, origineller Volksschriftsteller; er kennt Land und Leute wie nicht leicht Einer und haben seine Schriften den "gesunden Erdgeruch". Montag früh sollen Ihnen diese Zeilen "guten Morgen" sagen und meine hohe Gebieterin ohne Influenzafieber vorfinden - es schneit aber so furchtbar stark, dass es vielleicht Schneeverwehungen (an den Eisenbahnlienien) gibt, der Brief sich verspätet, und Sie an Nachlässigkeit meinerseits glauben möchten - und das wäre sehr unrecht. Einen lieben Brief von Ihnen zu beantworten, ist mir immer eine Herzensangelegenheit, es ist mir wie ein Gespräch mit Ihnen, ja, ich höre sogar Ihre Stimme, deren Ton mir jederzeit vollständig gewärtig ist. -

Ihr treuester und vielleicht bester Freund

J. Rh.

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[1] der grosse Gelehrte Pettenkofer = Dr. med. Max von Pettenkofer (1818-1901), Mediziner, Hygieniker, Universitätsprofessor, Begründer der experimentellen Hygiene in Europa; entwarf für München die grossartige Wasserversorgung aus dem Taubenberg; entwickelte das sog. Pettenkofersche Regenerationsverfahren zur Auffrischung alter Ölgemälde.