Rheinberger über den Sinn und die Wirkung all der Briefwechsel u.Ä.


München, d. 24. 2. 01

Theuerste Freundin!

Nun haben wir uns so oft in philosophischen Gedanken ergangen, und Sie haben nicht einmal gemerkt, dass ich Dr. philos. bin! Das ist demüthigend und kränkend für mich! Und es heisst noch dazu in meinem Diplom... "modorum musicorum inventor fecundissimus et artis ad leges severiores adstrictae praeceptor subtilissimus"[1] - und das Alles haben Sie nicht gewusst! Und ich war so stolz darauf! Wenn mein letzter Brief nicht zum "Gutenmorgensagen" kam, bin ich unschuldig daran - ich habe ihn (wie gewöhnlich) am Sonntag früh eigenhändig auf der Post abgegeben; es geht Ihnen wie mir: es ist immer ein unangenehm enttäuschtes Gefühl, wenn ein sicher erwarteter Brief nicht eintrifft. Hoffentlich trifft sein Nachfolger morgen präziser zum lever de la princesse ein! Das war wieder ein schattenloser und herzerfreuender Brief, den Sie mir schrieben - ich habe noch in meiner Antwort kurz meiner Freude Ausdruck gegeben - und freue mich schon wieder auf seinen Nachfolger. Was Sie von dem Besuch der privaten Kunstsammlungen (gegen Wohlthätigkeitsbazare) sagen, ist sehr wahr, aber man kennt diesen Usus hier leider nicht, obschon es nicht an schönen Privatsammlungen fehlt; die Wohlthätigkeitsfeste sind mir auch nicht sympathisch; schon das Wort: "Armenball" klingt scheusslich. -

An jenem Montag waren Sie also "bös"; doch nicht meines unverschuldet verspäteten Briefleins halber? In dieser Gemüthsstimmung müssen Sie sich einmal photographieren lassen, damit ich dann auch eine Idee davon bekommen kann, wie meine hochverehrte Freundin als "bös" aussieht. Bitte, also in diesem Falle ja "nicht freundlich" zu lächeln! Sie sprechen von Ihrer "Bosheit" und "Bösheit" (was nicht dasselbe ist) mit grosser Ruhe und Selbsterkenntniss - und ich glaube doch nicht daran; ich will auch nicht daran glauben. Ich glaube, dass Sie in der Tiefe des Herzens grundgütig sind und werde dies glauben bis ich das Gegentheil erfahren habe - dann freilich müsste ich daran glauben - und auch dann noch ungern! Aber das wäre nicht unmöglich, dass Sie ein wenig "eigensinnig" sind; aber Personen gegenüber, welche man liebt, kann man sich's mit ein klein wenig Opfersinn abgewöhnen und dann fühlt man sich wohl und freudig, als wie wenn man eine gute That vollbracht hätte! Probieren Sie es einmal "ohne Murren!"

Die "Weinberggeschichte des Herrn"[2] ist wohl schön und gut von Ihnen zitiert; aber muss es denn sein, dass Sie arg verspätet kommen? ist es nicht eine freiwillige Verspätung? Wie viel schöner wäre es, wenn Sie froh und freudig kämen, statt zögernd, bedingungsweise, lavierend - und ach! ich bin schon durch dies kleine Resultat beglückt, wenn Sie den festen Willen dazu beweisen; und warum sollt' ich an Ihrem Worte zweifeln? Ihren Äusserungen folgend, finde ich, dass Sie mich im Ganzen für besser halten, als ich bin; darum bitte ich Sie aufrichtig mich nicht zu schonen - Alles zu sagen, was Ihnen nicht gefällt, oder tadelnswerth oder unsympathisch erscheint - ich halte es gegen meine edle Gebieterin ebenso. Andernfalls dürfte ich mir nie mehr gestatten, mich im Urtheil über Ihre Gesinnungen und Handlungen so freimüthig zu ergehen, wie in meinem letzten Briefe; es würde zu anmassend erscheinen. Auf die "ideale" H. H. sind Sie nicht gut zu sprechen - und ich war mit ihr schon so befreundet. Aber Ihr lieber Brief hat Alles wieder gut gemacht und ich tadle mich selbst wegen meiner übergrossen Empfindlichkeit Ihnen gegenüber. Hundertmal sage ich mir: ich habe ja gar kein Recht zu verlangen, dass Andere in den höchsten Fragen mit mir übereinstimmen sollen - und doch ist es mir wie ein physischer Schmerz, wenn ich sehe, dass wir oft so ganz differieren. Doch hat sich das gebessert, nicht wahr? Ihr Brief gibt mir das Recht, es zu glauben. Es ist dies das Einzige, was mich seinerzeit über den mir drohenden Verlust (nicht gerade trösten, sondern wenigstens) wird hinwegkommen lassen! Ich ertrüg' es kaum, im Zwiespalt zu scheiden und unsere, mir so theure Freundschaft in ungelöster Dissonanz zu beendigen. Wie viel, wie oft, wie lange hat mich dieser Gegenstand schon beschäftigt! Sie werden und können das natürlich nicht begreifen - geht es mir ja oft selbst so! es gibt wohl nicht leicht etwas Widersinnigeres, als einen klaren Kopf, der das Herz überreden will, und immer wieder besiegt wird - dieses Schauspiel biete ich mir täglich selber; und wenn meine hohe Gebieterin mich scherzweise ihren Beichtiger nannte, so ist es hier eher umgekehrt. Dass Sie die Mahnungen und Warnungen meines letzten Briefes so herzlich aufnahmen, hat mich tiefer gerührt und bewegt, als ich sagen kann; Sie sind mir dadurch noch theurer geworden, wenn dies überhaupt möglich war- ich bin ja so viel älter, dass ich's wohl sagen darf!

Während ich hier schreibe, fliegt mein Brief Berlin zu, wenn ihn keine Schneeverwehungen aufhalten. Es ist mir eine Beruhigung zu wissen, dass er kein Wort enthält, das Sie betrüben könnte. Ich hatte nicht bei jedem Briefe hierin ein so gutes Gewissen und hätte oft gerne dies und jenes zurückgenommen - aber es ging Ja schliesslich dank Ihrer Güte doch immer "friedlich" ab. -

Sie haben wohl recht, mich auszuschelten wegen einer Briefpause von ein paar Wochen. Ich hatte nämlich das Gefühl, es könnte Ihnen lästig sein, wenn ich in den Plaudereien immer wieder auf schon Besprochenes zurückkomme und es würde mir höchst peinlich sein, bei Ihnen ein Gefühl von Ermüdung zu wecken. Aber ich wäre wohl der Mehrgestrafte und zudem hat Ihr so herzlicher Brief mich darüber beruhigt. Wie pocht mein Herz immer freudig, wenn Freitag früh die geliebten Schriftzüge erscheinen! Dann sag ich mir immer: einmal werden sie ausbleiben - dann wieder: nur jetzt noch nicht! Gelt, das ist wohl kindisch! - Keiner von all meinen Bekannten würde mich in den Briefen an Sie auch nur von ferne erkennen - es ist, als ob durch Sie so viel in mir erst recht zum Bewusstsein käme, was früher nur geschlummert. Eines ist sicher: seit ich Sie kennen lernte, fühle ich mich auch viel gutherziger gegen andere, mir sonst gleichgültige Menschen und wenn ich darin manchmal zu schwach bin, so bist Du daran Schuld, mein theurer Freund! Da ich "kompositorisch" eigentlich noch immer pausiere, so finde ich manche Zeit, mich mit meiner alten Liebe, der Poesie, zu beschäftigen; die in höherm Sinn ja auch Wissenschaft ist und gleich der Sonne in alle Verhältnisse des fühlenden Menschen hineinleuchtet; die in weichen Wellen durch die Länder strömt, die im Liede ertönt wie ein dem Wiesenthal entlang rieselnder Bach; d. h. die ächte Natur- und Volkspoesie. "Sie ist ein geistiger Nachhall der Seele, ein Strahl wehmüthiger Erinnerung an das Eden, an das verlorene Paradies," meint irgend ein Dichter - und er hat Recht. In wunderbarster Fülle hat sie der Schöpfer über sein Werk ausgegossen - sie ruht über dem Schweigen der Wälder, im Sang der Vögel, im Tosen des Sturmes, in der Tiefe der Schmerzen, in der Ahnung des höchsten Glückes und wendet sich, bewusst oder unbewusst, immer wieder zum ewigen Urquell, zu Gott. Ein ächter Dichter kann nicht Gottesleugner sein - wenigstens nicht so lange er dichtet. - Vor wenigen Jahren erhielt ich von dem Redakteur eines fränkischen atheistischen Blattes, das sich durch Hass gegen alles Religiöse auszeichnete, eine Anzahl Gedichte zugesandt, die alle tief religiöser Natur waren, mit der Bitte, gelegentlich eines oder das andere zu komponieren. Ich habe auch zwei derselben gesetzt. Später besuchte mich dieser Mann. Ich sprach ihm meine Verwunderung aus über die Tendenz seiner Gedichte, die ich ihm am wenigsten zugetraut hätte. Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit entgegnete er: "Was wollen Sie? Die Eindrücke der Kindheit und der Jugend sind eben doch die mächtigsten und mir sind es die seligsten Stunden, mich dichterisch denselben hinzugeben." Er wurde ganz weich dabei. An demselben Tage hielt er aber wieder eine Wahlrede im Sinne seines Blattes!

 

1. März 01.

Endlich der ersehnte Brief! Ja, Uhland hat wohl recht: "nun wird sich Alles, Alles wenden" - das ist, wie ich deutlich fühle der Inhalt Ihrer Andeutungen! Und wenn ich seit längerer Zeit glaubte, darauf vorbereitet zu sein, so empfand ich, dass ich es doch nicht war. Warum sprechen Sie zu mir so in Hieroglyphen? Jede Klarheit ist besser zu ertragen, als so unbestimmte Andeutungen. Doch Sie werden wissen, warum Sie so verfahren und hatten jedenfalls die Absicht, mich zu schonen, wofür ich Ihnen danken muss! Es ist weniger Frühlingsluft, als Abschiedsluft, die aus Ihren Zeilen weht - nicht aus den heutigen allein; und Sie sind (mit Unrecht) verlegen, wie es mir beizubringen, weil Sie wenigstens theilweise wissen, wie tief mich Alles berührt, was Sie betrifft. Wie gerne möchte ich Sie, meine theuerste Freundin, darüber beruhigen, allein ich fürchte nicht die rechten Worte zu finden. Es muss auch jetzt noch nicht sein und wird sich der Strom meiner Gedanken auch wieder im richtigen Bett zurechtfinden und verlaufen. Sie schreiben: "morgen mehr" - ich thue also besser hier abzubrechen über diese Angelegenheit. Der inzwischen bei Ihnen eingetroffene Ille sollte Ihnen nur sagen, dass ich Ihren Brief erhalten habe. Vielleicht macht das Bildchen auch Ihren verehrten Eltern Spass, die den genialen, aber etwas "zappligen" Maler gewiss (wenigstens vom Sehen) kannten. -

Ich kann in diesem Briefe nicht Alles beantworten, was mir der Ihrige heute bietet - ich wäre auch nicht in der Fassung dazu. Wenn Sie sich etwas darauf zu Gute thun, dass Sie den Regenschauer musterhaft ausgehalten, so muss auch ich gestehen, dass Ihre Zeilen hierüber mich unsäglich gerührt haben - Sie wissen nicht, weIche Gewalt, weIchen Zauber Ihre Ausdrucksweise auf mich ausüben kann, wenn ich Ihre Stimme zu vernehmen glaube, - so auch bei dieser Stelle! Das werd' ich Alles schwer entbehren müssen - es soll dies keine Klage sein, aber sagen darf ich es dem liebsten Freunde doch! Sie fragen in diesem Briefe nach meiner Schlaflosikeit - das wird sich in nächster Zeit schwerlich bessern, es müsste denn ein Wunder geschehen. Eben erhielt ich einen lieben Brief aus Ihrer Nachbarschaft, von meinem Freunde, Dr. Rintelen; er hatte auch die Influenza und leidet noch an deren Folgen. -

 

2.3.

"Morgen mehr" schrieb meine edle Gebieterin; mit welcher Spannung ich dasselbe erwarte, können Sie sich wohl denken - sollte aber kein Brief weiter kommen, so schicke ich diese Zeilen (morgen) Sonntag doch wie gewöhnlich ab, damit Sie Ihren herkömmlichen Montagsgruss erhalten. Doch bitte ich Sie, zu bedenken, dass die ersten acht Seiten noch nicht unter dem Eindruck Ihrer gestrigen Mittheilungen entstanden sind; und wenn Manches vielleicht nicht Ihrer jetzigen Stimmung entspricht, so verzeihen Sie es gütigst und lassen Sie mich es nicht entgelten. Mir ist die Hauptsache, dass Sie glücklich werden mögen, und dass Ihre dunklen Andeutungen sich dahin klären mögen. -

Heut Abend muss ich ein Konzert besuchen; es ist das erste dieser Saison, und ich wollte, es wäre schon überstanden; kaum mag ich's glauben, dass es eine Zeit gab, wo ich gar nicht genug Musik hören konnte!

 

3. 3. Sonntag früh.

Da dieser Brief noch rechtzeitig zur Post kommen soll, so verbleibe ich jetzt wie immer mit den herzlichsten Grüssen,

meiner verehrtesten Freundin

treuergebener Jos. Rheinberger

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[1] «modorum musicorum inventor fecundissimus . . .» = «. , . der sehr fruchtbare Schöpfer musikalischer Werke und ausgezeichnete Lehrer der strengen und genauen Gesetze der Kunst. ..» (recte: «. , . adstrictae praeceptori subtilissimo,») Aus dem Text der Urkunde zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität München vom 17. März 1899.

[2] «Weinberggeschichte des Herrn» = Matthäus, Kap. 20, 1-16.