Abschiedsbrief N° 3


Ostersonntag, d. 7. 4. 01

Verehrteste Freundin!

Also doch! Ich hatte nach Ihrem letzten Brief Keinen mehr erwartet und war umsomehr gerührt, Ihre lieben Schriftzüge wieder zu sehen. Es fällt mir nicht leicht, Ihnen zu antworten; der gewohnte vertrauliche Ton will sich der nunmehrigen Braut nicht mehr recht schicken, und Ihnen "angefremdet" zu schreiben, ist mir noch neu - was fang ich nun an? Sehe ich eben, wie ich zurecht komme; im schlimmsten Falle appelliere ich an Ihre gütige Nachsicht! Ich rechne es Ihrer Freundschaft hoch an, dass Sie in dieser Ihnen so hochwichtigen Zeit noch Zeit fanden, mir so freundliche und herzliche Mittheilungen zu machen; gewiss hätte ich Ihnen das Gegentheil nicht übel genommen; gilt ja doch schon in der biblischen Parabel das Heirathen als vollgültige Entschuldigung. Alles was Sie schreiben: Ihre Stimmung, Ihre Zweifel, Ihre Hoffnungen und Befürchtungen kann ich so recht verstehen! Wie Vieles davon habe ich seiner Zeit selbst durchgemacht! Sie sagen, Martinus und ich seien grosse Propheten; was mich betrifft, so war ja das Prophezeien bei genauer Lesung Ihrer Briefe nicht schwer; nur im Datum der kommenden Ereignisse habe ich mich wohl um ein Halbjahr geirrt, indem ich vermuthete, dass Sie erst im Herbst oder Winter heirathen würden. In Betreff des Martinus haben Sie recht: Freude und Jubel kennt er nicht - aber die tiefen, herzbewegenden Stimmungen in allen Nuancen der Schwermuth beherrscht er wie kein Zweiter seit Lenau. Viele seiner Dichtungen sind für mein Gefühl geradezu ergreifend. Wenn ich ihm gelegentlich sage, dass er mir der grösste Lyriker der Gegenwart sei, dann schaut der liebe Mensch mich so verlegen und fragend an und findet keine Worte; es entschädigt ihn aber doch für die vielen, neidhaften Bemerkungen seiner Kollegen, denen der Arme waffenlos gegenüber steht. -

Seit vorgestern darf ich zwar in's Freie, aber es ist mir dies noch keine Erquickung; ich werde gleich so schwindelig, dass ich mich nach 10 Minuten Freiheit gerne nach einem Wagen umsehe. Und doch möchte ich mich am 16. d. M. wieder in die Tretmühle der Pflicht einspannen - schon jener Schüler wegen, die sich meinetwegen in München aufhalten. Der guten Olga habe ich Ihren freundlichen Gruss, den sie herzlich erwidert, ausgerichtet; sie war mir in den letzten schweren Tagen ein grosser Trost. Leider wird sie mich bald wieder verlassen müssen, und werde ich dann ihre Abwesenheit doppelt fühlen. - Darf ich Ihnen sagen, dass mich Ihre Charfreitag-Feier sehr erfreut hat? Ich kann Ihnen keinen besseren Grund meiner grossen Verehrung für Sie angeben, als dass ich Ihnen dies schreibe; meine hohe Gebieterin versteht mich wohl, wenn sie meiner ausführlichen ernsten Briefe vom 3. Nov. und Weihnachten gedenkt, die vielleicht doch nicht fruchtlos waren. Darf ich dies glauben? Heute fand ich zufällig ein langgesuchtes Buch - nämlich das letzte Tagebuch von Miez (1892); es lag in einer geheimen, schwer auffindbaren Schublade ihres Schreibsekretärs und war von ihr wohl zur Vernichtung bestimmt, ohne dass dieselbe mehr zu Stande kommen konnte. Ich habe vorerst nur wenige Seiten gelesen; es ist erschütternd zu verfolgen, wie ein kräftiger, gesunder Geist vergeblich, oft verzweiflungsvoll, dann wieder voll Gottergebenheit ankämpft gegen ein dunkles, unheimliches Geschick, das unabwendbar näher kommt und mit Bewusstsein erwartet wird! Dazu die ständige Besorgniss um mich und meine Zukunft! ich glaube kaum, dass ich im Stande sein werde, es ganz zu lesen. Was wäre die Ärmste gewesen, ohne ihre felsenfeste, tiefe Religiosität! Am Schlusse des letzten, plötzlich abgebrochenen Blattes lag noch beiliegend letzte Blüthe aus Kreuth - ihrem lieben Kreuth! Es wird mir schwer fallen, gerade dieses letzte, (fünfundzwanzigste!) Buch zu vernichten - und doch muss das sein. Eben so wird es mir schwer fallen, sie ihrem provisorischen (elterlichen) Grabe zu entnehmen und in unsere Gruft zu transferieren. - Aber in welche Tonart bin ich gerathen! -

 

Ostermontag, den 8. 4.

Schöner, dunkelblauer Himmel; dazu die langsam schwingenden, tiefen Töne der Osterglocken - das stimmt Alles so ernst und feierlich! Und Sie sind nun auf der Suche nach einer Wohnung in Charlottenburg, wo Sie dann Ihr "Nestchen" einrichten werden - glückselige Zeit! Und so kurze Zeit zuvor wurde erst Ihr Heim in der Thiergartenstrasse verschönert, damit Sie sich recht göttergleich behaglich dort befinden möchten - allein ein goldener Käfig ist nichtsdestoweniger ein Käfig und die Liebe macht alle Berechnungen zu nichte; so war es von je, und so wird es auch bleiben! Dass Ihre verehrte Frau Mama (der ich die Hand küsse) noch immer in Folge jenes Unfalles leidend ist, bedaure ich herzlich; hatte sie mir doch vor nicht zu langer Zeit geschrieben: "Auf Wiedersehen im lieben, alten Kreuth"! Wie schwer ist doch manchmal, auch nur auf ein paar Wochen Pläne im Vorhinein zu machen! Der pariser Reisepass ist nun auch für meine hohe Gebieterin hinfällig geworden - wenige Wochen nur, und meine edle Gebieterin verwandelt sich in eine "verehrte gnädige Frau"; so ist nichts beständig, als die Unbeständigkeit, und weise ist es, sich derselben "ohne Murren" zu unterwerfen, gleichviel ob's weh thut, oder nicht!

Noch fühle ich keinen Drang zur Arbeit; bei mir kein gutes Zeichen; und so benütze ich denn die "freie" Zeit, alle häuslichen Angelegenheiten (und deren sind ziemlich viele) in Ordnung zu bringen - komme dann was das Schicksal bringen will!

Erst gestern entdeckte ich ein mir noch unbekanntes Lager von älteren Briefen an meine Frau; es ist fast unglaublich, in wie viel der verschiedenartigsten Korrespondenzen Miez "verwickelt" war. Was ich davon vernichte, muss ich doch zuerst ein wenig durchfliegen; besonders im Italienischen fällt mir dies schwer. Da nun die meisten Korrespondenten längst todt sind, so macht es einen eigenen Eindruck, sie so zu sagen momentan sprechen zu hören. Wie war das Alles zu seiner Zeit wichtig, und ist jetzt so veraltet und vergessen! Je länger das Leben währt, desto kürzer kommt es Einem (aus der Vogelperspektive betrachtet) vor. Wie lange wird es dauern und es kommt mir die schöne, aber kurze Episode unseres brieflichen Verkehrs wie ein ferner, ferner Traum zum Bewusstsein! Jetzt schon scheint es mir fast unbegreiflich, dass ich Ihnen 12-14 Seiten lange, enggeschriebene Briefe übersandte und glauben konnte, dass Sie an all dem Interesse finden könnten; und doch war dies zum grossen Teil mit die schönste Zeit, die ich verlebte! -

Die Ruhe auf dem Lande in Thüringen, die Sie wohl einige Wochen geniessen werden, wird nach den vielen Aufregungen, denen Sie natürlicherweise in den letzten Monaten ausgesetzt waren, sehr wohlthätig sein. So Manches hätte ich noch zu schreiben, aber es wäre unbescheiden, Sie in so wichtiger Zeit damit zu behelligen, wo, wie Sie selbst bemerkten, so Vieles auf Sie einstürmt - aber wenn man glücklich ist, kann man auch viel tragen.

Ihre Eltern werden Sie nach Ihrem Weggang wohl sehr vermissen; besonders Ihre Frau Mutter wird die Abwesenheit ihres "Kleinods" (wie sie meine hohe Gebieterin nannte) schwer empfinden. -

Herrn O. König habe ich nicht mehr zu Gesicht bekommen - allerdings hatte ich auch fast vier Wochen Hausarrest. Er wird Sie auf der Alpe wohl schwer vermissen - aber warum soll er es besser haben als Andere?

Mit herzlichstem Grusse, verehrteste Freundin!
Ihr unverändert treugesinnter

Jos. Rheinberger.

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