Letzter Brief Jos. Rheinbergers an Henriette Huber-Hecker


München, den 14. 4. 01

Meine verehrteste Freundin!

Eine wahrhaft herzliche Freude machte mir wiederum Ihr lieber Brief, den ich heute (sonderbarerweise) mit aller Bestimmheit erwartete; und schlag ½ 12 Uhr kam er an - pünktlich, wie nur ein lieber, willkommner Freund sein kann. Möge er noch recht viele Nachfolger haben! Ich schreibe dies an dem melancholischsten "weissen Sonntag"[1], dessen ich mich erinnere, dazu ist es kalt, schneeig, windig; ganz: "Kalt und schneidend weht der Wind" - wie es in dem Gedichte von Lingg heisst - keine Spur mehr von der trügerischen, Uhland'schen Frühlingsahnung[2]. Vielleicht finden Sie dieselbe im "waldgrünen Thüringerland", nach welchem sich der Scheffel'sche Beterolf[3] so innig sehnt! Sie sehen, ich bin in Betreff der Poeten unverbesserlich. Dass Ihnen der Immermann'sche Oberhof behagen würde, war zu vermuthen; er gehört zu dem Schönsten unserer Literatur - die andern Theile des "Münchhausen" sind doch etwas verblasst; ich habe letzthin darin geblättert und war frappiert über meine Wandlung seit 35 Jahren. Das ist allerdings ein Gebiet, über welches Sie noch lange nicht mitreden können. Gerne möchte ich auch über eine gesundheitliche Wandlung meinerseits berichten, aber es will hierin nicht recht vorangehen - Geduld, Geduld! Zum Glück kann ich meine liebe Schachgenossin noch ein paar Wochen behalten - sie hat mir mit ihrer stets heiteren Stimmung und Unverdrossenheit über manche schwarze Stunde hinweggeholfen und ich denke mit Bangen an ihre Abwesenheit und meine neue Vereinsamung.

Morgen Montag wird der künstlerische Nachlass des Prof. Ille[4] versteigert; ich bin leider nicht wohl genug hinzugehen - ich bin (dummerweise) auch zu weich gestimmt für dergleichen - mein "Dreiviertelverstandesmensch lässt mich überall im Stich - dazu das furchtbare "letzte" Tagebuch Miez, das sie in ihrer besorgten Güte offenbar mir verheimlichen wollte und dann nicht mehr die Kraft fand, es zu vernichten! Sie sehen, verehrteste Freundin, dass der Barometer meines Gemüthes fast auf dem Nullpunkt angelangt ist. -

Musikdirektor Ewert hat mir angezeigt, dass er das projektierte Konzert am 29. April, im Saale der k. Hochschule für Musik geben werde, unter Mitwirkung von Frau Herzog und Frl. E. Rintelen. Ich kenne die anderen Kräfte (Chor usw.) nicht und weiss also nicht, ob was "Rechtes" daraus wird oder nicht. Persönlich bin ich den ganzen vergangenen Winter meiner Musik stets aus dem Weg gegangen, was man mir da und dort übel nahm; ich kann es aber nicht ändern. -

Gräfin Taube in Bad Kreuth ist nun auch gestorben, der Sensenmann arbeitet heuer fleissig - oder kommt einem das nur so vor, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat? -

Wenn ich Prof. Simon in Kreuth sehe, "soll ich mich Ihrer erinnern" das ist doch ein wenig umständlich - es könnte ja vorkommen, dass ich auch ohnedem in Kreuth mich an meine hohe Gebieterin erinnern könnte - ja ich halte dies sogar für sehr wahrscheinlich - und da ich mich eines vortrefflichen Gedächtnisses erfreue, möchte ich fast sagen: für gewiss. Aber wann ich nach Kreuth komme, ist noch ungewiss; wenn es sich machen lässt, gehe ich früher als sonst dorthin, wo möglich schon 1. Juli. Aber wie gesagt, ist Alles noch unsicher und hängt auch mit dienstlichen Gründen zusammen. All diese Ungewissheiten sind lästig und verstimmend.

Sie sind so lieb und vertrauend, mich zu fragen, ob Sie mich in München (in nächster Zeit) aufsuchen sollen, oder nicht. Sind Sie mir böse, wenn ich Sie bitte, für jetzt Umgang davon nehmen zu wollen? - es ist noch Alles zu neu - und setzt ein festes Vertrauen auf Ihre Freundschaft voraus, dass ich gegenwärtig obige Antwort gebe, wo ich unter anderen Umständen mit der innigsten Freude um Ihren freundlichen Besuch gebeten hätte!

Es trifft in nächster Zeit so Viel für mich zusammen: häusliche und dienstliche Angelegenheiten zu ordnen, Verfügungen zu treffen, verwandtschaftliche Dinge zu regeln, dazu die Unsicherheit, wie sich mein Befinden gestaltet - das gibt kein ruhiges Fahrwasser für mein nächstes Vierteljahr, das mir doch so nöthig wäre, und ich hoffe zu Gott, dass sich dann, wie es in Uhland's "Frühlingsahnung" heisst: "Alles, Alles wendet." Sie verstehen mich wohl! -

 

Montag, den 15.4.

In Gedanken begleite ich Sie auf Ihrer Fahrt nach Thüringen - und dann noch auf welchen Fahrten im Leben? - Gegenwärtig schreibe ich bei Lampenschein, wie "vor Zeiten" im Plauderstündchen. Das ist nun Alles vorbei und "gewesen", wenn auch mir unvergessIich. Sie haben in Ihrem lieben Briefe so sehr recht, dass wir uns im persönlichen Verkehr wohl nicht so nahe gekommen und so vertrauend geworden wären, als wie durch brieflichen, und das muss mir auch ein kleiner Trost sein. Ebenso weiss ich es zu schätzen, dass Sie mir erlauben, Sie brieflich in Thüringen zu besuchen. Langula ist wohl ein neuer Fabrikort? auf der Karte ist er noch nicht angegeben, aber durch Ihren jetzigen Aufenthalt meinem Gedächtniss eingeprägt. Sollte Frau Alberts sich noch meiner Wenigkeit erinnern, so bitte ich meine beste Empfehlung ausrichten zu wollen. -

Sie haben mich durch die Versicherung, dass Sie so Manches, was ich Ihnen im Laufe dieser wenigen Monate geschrieben; beherzigen wollen, sehr erfreut - es war aber auch Alles von mir so gut und selbstlos gemeint!

Es ist mir von je aufgefallen, dass Sie sich über mangelndes Selbstvertrauen für's Leben beklagen. So wie ich Sie kenne, haben Sie nicht allein keine Ursache dazu, sondern sind Sie (gegen so viele Andere) in der glücklichen Lage, alles Vertrauen haben zu können. In Ihrem jugendlichen Alter können Sie mit der nöthigen Energie dieses Misstrauen leicht besiegen. Bei mir war's umgekehrt - in der Jugend hatte ich fast zu viel Selbstvertrauen und hielt fast Alles für erreichbar; im reiferen Mannesalter kam aber doch so viel Selbstkritik dazu, dass mir jede Überhebung fern blieb - während jetzt (nach dem natürlichen Lauf der Dinge) mein Selbstvertrauen schwindet. Trotzdem haben Sie nicht Recht, mir zuzurufen: "Arzt, hilf Dir erst selbst!" Die Zeit meiner besten Arbeitskraft und Energie, sowie die Widerstandsfähigkeit der Nerven ist dahin; Martinus singt mir zu: "Du gehst umher so trüb, kein Blümlein übrig blieb, die Blätter sich verfärben, das Herz möcht' selber sterben! ", So ist's - während bei Ihnen die Lebensenergie noch durch zwei Jahrzehnte wachsen kann und wachsen wird, wenn Sie den festen Willen dazu bethätigen. - Von morgen an muss ich meine dienstlichen Arbeiten wieder aufnehmen - ich gestehe: ohne allen Enthusiasmus - die leidige Influenza hat mir doch recht zugesetzt, physisch und psychisch. Ich fürchte, dass dieser Brief Ihnen wenig Freude machen wird; aber mir ist es wohltuend, mich auch im Leid aussprechen zu können und zwar aus "alter Freundschaft" gegen Sie, da Sie meinen heiteren wie melancholischen Expektorationen stets geduldiges und theilnehmendes Gehör liehen, was ich dankbar zu schätzen weiss. -

In Betreff Beethoven's haben Sie sehr recht; nur Mozart steht mir vielleicht innerlich (nicht höher aber) um einen Grad näher. -

Möge Sie, meine edle Gebieterin! dieser Brief in erwünschtestem Wohlbefinden treffen, und mögen Sie mir nicht zürnen, dass ich Sie auch im Thüringerlande aufsuche - haben Sie mich ja durch freundliche Mittheilungen Ihrer Adresse quasi dazu ermächtigt.

Und nun Gott befohlen mit dem innigen Wunsche, dass Sie glücklich werden mögen - in unveränderter Verehrung und Freundschaft

Ihr Jos. Rheinberger.

München, den 17.4.1901

______________

[1] «Weissen Sonntag» = 1. Sonntag nach Ostern

[2] ... Uhland'schen Frühlingsahnung = Ludwig Uhland «Frühlingsahnung» «Die linden Lüfte sind erwacht…,»

[3] der Scheffel 'sche Beterolf = recte «Biterolf»

[4] Prof Ille=Eduard Ille (1822-1900), Historienmaler, Dramatiker und Akademieprofessor in München, Zeichner für die Zeitschrift «Punsch», die «Fliegenden Blätter» und die «Bilderbogen».