Konzertkritik in der 2. Beilage zur Allgemeinen Zeitung über ein Abonnementskonzert mit Werke von J. G. Rheinberger und Franz Liszt.


Konzertkritik in der 2. Beilage zur Allgemeinen Zeitung
o.J. (vermutlich 1886)

Die Musikalische Akademie gab am Mittwoch den 24. d. M. ihr zweites Abonnementsconcert unter Mitwirkung der Concertsängerin Frl. Marie Schmidtlein aus Berlin und des Violoncell-Virtuosen Hrn. Julius Klengel[1] aus Leipzig. Frl. Schmidtlein sang eine Arie der Dejanira aus dem Händel'schen Oratorium "Herakles" und drei Lieder aus dem Zyklus "Aus verborgenem Thal" op. 136, von Joseph Rheinberger. Die bedeutenden künstlerischen Fähigkeiten, welche uns neulich im Concert des Oratorienvereins an Frl. Schmidtlein so angenehm auffielen, kamen auch im Odeon zu schönster Geltung; eine äusserst sympathische grosse Stimme, musikalisches Verständniss und ein durchaus durchdachter geschmackvoller Vortrag. Der Stimme Frl. Schmidtleins fehlt nur eine sonore Tiefe, um ein völliger Alt zu sein. Diesem Manco ist es zuzuschreiben, wenn es der Sängerin nicht immer gelang, an den entfernteren Plätzen des grossen Saales verständlich zu bleiben. Dies gilt besonders von der Händel'schen Arie, die vom Orchester begleitet wurde.

Händels Oratorium "Herakles" wurde 1744 zu London aufgeführt - nebenbei bemerkt ist kaum ein anderes Sujet von der Oper und vom Oratorium so ausgebeutet worden wie der Herkules-Mythos - die Arie der Dejanira bringt der Sängerin nicht zu unterschätzende Schwierigkeiten entgegen, welche Frl. Schmidtiein aber mit Sicherheit überwand.

Höher stand uns die Leistung des Gastes in den drei hier zum ersten Male öffentlich gesungenen Liedern Rheinbergers, welche, wenn wir nicht irren, auch ihr gewidmet sind. Wir hatten einmal Gelegenheit, fast den ganzen Zyklus von Eugen Gura vorgetragen zu hören, und diesen unvergesslichen Eindruck zu verwischen gelang Frl. Schmidtlein allerdings nicht, doch erwarb sich die Sängerin auch hier wiederholt herzlichen Beifall. Der Lieder-Zyklus "Aus verborgenem Thal", dessen hochpoetischer Text die Gattin des Componisten, unter dem Namen F.v. Hoffnaass als feinsinnige Dichterin bekannt, zum Autor hat, gehört mit zu dem Bedeutendsten, was wir an moderner Gesangsliteratur besitzen. Von den drei vorgetragenen Liedern "Klage", "Sehnsucht" und "Wiederfinden" hat uns immer das erste durch die Tiefe seiner in Wort und Ton verkörperten Empfindung am meisten zu Herzen gesprochen.

In Herrn Klengel lernten wir einen ganz vorzüglichen Cellisten kennen; als solcher zeigte er sich in seinem eigenen Cello-Conzert und in den zwei kleineren Cello-Etüden, "Air" von J. S. Bach und "Elfentanz" von D. Popper. Den Cellisten Klengel stellen wir jedenfalls höher als den Componisten, sein Cello-Concert ist, wie alle Compositionen von Virtuosen, für ihr eigenes Instrument - die gymnastische Production eben dieses Instrumentes bleibt die Hauptsache.

Am meisten gefiel wohl der seelenvolle Vortrag der "Air" von Bach; auf den stürmischen Beifall, der sich nach Poppers "Elfentanz" erhob, wiederholte Hr. Klengel dieses artige Salonstück, das einen übrigens bei längerer Dauer nervös machen könnte. Die Akademiker selbst leiteten unter der Direction Fischers das Concert mit einer brillanten Aufführung der herrlichen dritten "Leonore"-Ouverture Beethovens ein und schlossen dasselbe mit der erstmaligen Vorführung der Symphonie zu Dante's "Divina Commedia" für grosses Orchester mit Frauenchor und Orgel von Franz Liszt. Mitten zwischen vier Liszt-Matineen stehend, hätte uns die Vorführung der "Dante"-Symphonie wirklich erspart bleiben können; oder sollen wir uns vielmehr beglückwünschen, dass wir sie nun überstanden haben und wohl nicht mehr so bald wieder zu hören brauchen? Wenn es die Absicht Liszts gewesen, uns mit den erschrecklichen Tonmalereien der Dante-Symphonie die Qualen der Hölle und des Fegfeuers möglichst anschaulich beizubringen, so kann man allerdings nicht läugnen, dass dieser Zweck erreicht wird. In den brutalen Tonfolgen des ersten Satzes, des Inferno, kosten wir die Qualen der Verdammten, nur mit dem Unterschiede, dass die zur Hölle Verurtheilten nicht noch auch das Fegefeuer durchzumachen hatten, wie wir. Die Vorführung des Liszt'schen Werkes wurde durch die infernalische Temperatur des Saales noch wirksam unterstützt, so dass wir den frevelhaften Wunsch nicht unterdrücken konnten, es möchte allen jenen KK. Abgeordneten, welche gegen die elektrische Beleuchtung im Odeon gestimmt haben, ein Zwangsabonnement auf sämmtliche Frühjahrs- und Sommer-Concerte zutheil werden. Selbst die sanften, nach einem "Allegro frenetico" einsetzenden Arpeggien zweier Harfen waren nicht im Stande, uns das Inferno wesentlich zu versüssen. Wie billig ist das Fegefeuer mit seinen Strafen milder, aber dafür ist Liszts Purgatorio von wahrhaft erhabener Langeweile, und mit den Verdammten athmen wir auf, wenn das vom Frauenchor der I. Vocalcapelle angestimmte Magnificat ertönt - das kurze Solo sang Frl. Herzog - entschieden das Erfreulichste und Schönste im ganzen Werke; aber eben dieses Magnificat ist, wenigstens dem Hauptmotiv nach, nicht von Liszt, sondern eine uralte katholische Kirchenmelodie. Im Paradiese aber fühlen wir uns erst, wenn wir uns wieder in der Garderobe befinden, und das will im Odeon bekanntlich viel sagen. Unsere wackeren Akademiker haben sich mit diesem Liszt'schen Monstrum redlich abgeplagt. Nach dem Inferno und noch mehr zum Schluss erscholl aus einem Liszt-Winkel des Saales wüthender Applaus, die grosse Majorität des Publicums verharrte  in einem Schweigen, das von der hohen Achtung dictirt war, die man Franz Liszt auf jedem anderen Gebiete schuldig ist.

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[1] Julius Kiengel (1859-1933), Solocellist im Gewandhausorchester und Professor am Konservatorium in Leipzig.