Rheinberger beurteilt eine Komposition von Bernhard Scholz (?)


München 13.5.93

Sehr verehrter Freund!

Zürnen Sie mir nicht, dass ich jetzt erst dazu komme, Ihre Briefe nebst Musiksendung zu beantworten; es war in Wahrheit nicht Mangel an Willen od. an Interesse, sondern an Zeit. Sie haben Ihr Tonwerk gar nicht betitelt, und das ist für die Beurtheilung doch so wichtig! Ob Sinfonie od. Tongemälde, Phantasie, sinf. Dichtung usw., das gibt immer andere Standpunkte für den Kritiker! Als absolute Musik aber kann es nicht beurtheilt werden, da die Schlachtmusik auf ein zu realistisches Feld weist. Ich kann mich also nur an die Musik (nicht an den gedruckten dramatischen Vorgang) halten und freue mich, Ihre geistige Frische und das jugendliche Feuer, das sich besonders in dem 4/4 Schlusssatze ausprägt, hervorheben zu können. Ebenso erfreulich ist die Meisterschaft, mit welcher Sie die Instrumentation handhaben! Bei dem ausgeprägt militärischen Charakter des Stückes ist ein detailliertes Programm wohl unerlässlich, sonst wird das Ganze, wenn im Einzelnen noch so vortrefflich, doch unverstanden bleiben, z.B. was will der erste langsame Satz (in F) vor dem As-dur (Gebet)? Der rasche Schlachtsatz erklärt sich wohl selbst, ebenso der triumphirende Schlusssatz; was aber soll die Repetition des As-dursatzes nach dem Schlachtengetümmel? Eine entschiedene Dreisätzigkeit: I. Gebet 2. Schlacht 3. Sieg wäre leicht zu verstehen, aber der öftere Tempowechsel wird ohne Programm unverständlich. Dieses sind meine Bedenken, die ich nach ihrem Wunsche in offenster Weise mittheile. Bedenken die weniger den guten musikalischen Kern als die etwas unklare Form treffen.

Ich bitte mir diese unmassgeblichen Ansichten nicht übel zu nehmen, da ich ja auch Unrecht haben kann, denn es ist viel leichter ein Werk in geschlossener Form (Sinfonie) zu beurtheilen, wo man sich nur an die absolute Musik zu halten hat. Dies meine kleinen Bedenken! Indem ich mich freue, Ihre vollste geistige und körperliche Frische an Ihrem Tonwerke bemerkt zu haben, verbleibe ich wie immer in alter Verehrung und Freundschaft

Ihr ergebenster
Jos. Rheinberger.

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