Rheinbergers ehemaliger Schüler Louis Adolphe Coerne sendet aus den Vereinigten Staaten folgenden Lagebericht


Chikago den, 30. Oktober 93

Sehr geehrter Herr Hofkapellmeister!

Ich möchte Ihnen ein paar Zeilen schreiben, um Ihnen mitzuteilen, wie es mir in den letzten Wochen gegangen ist. /…/

Ich schicke hiermit einige Programme, in welchen Werke von Ihnen aufgeführt wurden. Für jedes Concert, in welchem ich spielte oder Sachen von mir aufgeführt wurden, erhielt ich 25 Dollars und habe eben ein „Jubilee March“ für Militär Orchester geschrieben, das am Schluss für alle sechs Orchester hier gespielt sein soll. Für dieses Werk erhalte ich 100 Dollars.

Ich hatte das Glück, eine Stunde vor Mr. Guilmant's[1] letztem Concert anzukommen, sodass ich den grossen Künstler gehört habe. Ich wurde in liebenswürdigster Weise empfangen und wurde gebeten, Ihnen mitzutheilen, dass „M. Guilmant a reçu avec grand plaisir la carte de M. Rheinberger et voudrais bien envoyer en retour ses remerciments et compliments profonds“.

Da ich sechs Wochen lang fortwährend spielte, habe ich viel gelernt, bin auch sehr erfreut zu sehen, wie gut die meisten von den amerikanischen Organisten sind. Harland spielt nächste Woche. Ich habe im Sinn, in zehn Tagen nach Paris abzureisen, um unter M. Guilmant weiterzustudiren.

Sie würden mir eine grosse Freude bereiten, wenn Sie mir nun ein paar Zeilen schreiben würden, da ich nie die Ehre gehabt habe, einen Brief von meinem Lehrer, dem ich viel schuldig bin, zu empfangen. Briefe werden mir von Boston aus nachgeschickt.

Hochachtungsvoll ergebenst

Louis Adolphe Coerne[2].

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[1] Mr. Guilmant's = Alexandre Guilmant (1837- 1911) Organist und Komponist, seit 1871 Lehrer am Konservatorium in Paris.
[2] Louis Adolphe Coerne = (1870-1922), Schüler Rheinbergers, Kapellmeister und Komponist. Coerne veröffentlichte 1902 die von ihm er- gänzte Messe in a-moll, op. 197, von Rheinberger, die der Komponist unvollendet hinterlassen hat.