Hosäus macht Rheinberger den Vorschlag, ein neues Chorwerk nach einem religiösen Sujet zu schreiben


Dessau, den 9. Juni 1896

Hochverehrtester, teuerster Herr Professor!

Ihr lieber Brief vom 5. d. M. hat mir eine hohe Freude bereitet, für die ich Ihnen nicht genug danken kann. Dass Sie sich 4 meiner ziemlich umfangreichen Gedichte[1] angenommen und sie in Musik gesetzt haben, ist mir wirklich ein starker Trost in Zweifel und Anfechtung. Für „Sulamith“ und „Attila“ habe ich noch nichts thun können, sie irgendwo bei Musikern anzubringen. Mein alter Freund Tausitz, der an Sulamith dachte, ist inzwischen gestorben und Tinel liess mir neulich mittheilen, er sei so mit Plänen und Vorsätzen beschäftigt, dass er Gott danken wolle, wenn sein Leben bis zur Erfüllung derselben aushalte.

Leid thut es mir, dass eine andere Dichtung von mir, „Johanna d'Arc“ (ca. 700 Verse nebst Tanz und Worth und Tedeum) - als Oper gedacht, aber auch wohl wie der hl. Franciscus als grosses Konzertstück zu gebrauchen - wohl auch unbenützt im Pulte liegen bleiben wird. Ich habe sie vor etwa 10 Jahren geschrieben, vor etwa 5 Jahren gesäubert, geklärt, umgeschrieben und bin nun jetzt wieder auf sie zurückgekommen.

Mit der Schillerschen „Jungfrau v. Orleans“ hat sie nur das gemein, was Schiller schon von Shakespeare (Heinr.VI.) übernommen, sonst ist sie ganz im Sinne kirchlicher Auffassung geschrieben: Einleitung (Johanna's Berufung); I. Johanna in Chinon vor dem König; II. Johannas Einzug in Orleans; III. Karls VII. Krönung in Rheims; IV. Johanna bleibt auf menschl. Drängen beim Heere; V. Gefangennehmung Johannas; VI. Johanna im Kerker: VII. Johannas Tod und Verklärung.

Als Oper war der Stoff in 4 Akte vertheilt, zwei Handlungen jedesmal im Akt. Als Konzertstück würde ich einen besonderen Einschnitt nach No.III vorschlagen. Mit No. IV beginnt die grosse Wandlung zur letzten Katastrophe. Ich hätte gern Ihr Urtheil und Meinung erfahren, ob sich aus meiner Arbeit wohl etwas Brauchbares für einen Komponisten schaffen liesse. Vielleicht darf ich Ihnen einmal das kleine, mir sehr ans Herz gewachsene Werk vorlesen. - Für die nächsten Wochen „harter Arbeit“ wünsche ich Ihnen weise Kraft und Hilfe und zu dem Aufenthalt in Kreuth Stille und Erbauung in Gott. Die Gedichte Ihrer sel. Frau Gemahlin nehmen Sie gewiss mit sich; wie viel Schönes enthalten doch gerade die Verse, die sie Bad Kreuth gewidmet hat! Als ich im Jahre 1867 mit den erbprinzl. Herrschaften von Anhalt dort war, ahnte ich nicht, dass mir der Ort noch einmal so nahe rücken würde wie jetzt. Gedenken Sie dort auch meiner ein wenig.

Und nun drücke ich Ihnen herzlich die Hand und rufe Ihnen ein warmes „Auf Wiedersehen“ zu.

Nochmals innigsten Dank für alle Beweise aufrichtiger Freundschaft, die Sie mir in der verhältnismässig kurzen Zeit unserer Bekanntschaft erwiesen haben.

Mit tiefster Verehrung und in herzlichster Theilnahme an allen Ihren Werken und Wegen

Ihr

treu ergebener
Dr. W. Hosäus.

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[1] 4 meiner ziemlich umfangreichen Gedichte = In „Sieben Gesänge“ für 4 Mannerstimmen, op. 185 (komp. 1896): Nr. 3 „Zugvögel“, Nr. 4 „Meeresstille“, Nr. 5 „Singvögelein“, Nr. 6 „Nach der Trauer“.