Rheinberger schreibt an seine Nichte Olga über seine Rückkehr zur Arbeit, das Wetter und die Ermordung der Kaiserin


München den 13.9.98

Meine liebe Olga!

Da ich Deinem Briefe entnehme, dass Dich Deine gute Mama vor der Weinlese nicht entbehren kann, so ist es ja selbstverständlich, dass Du über jene Zeit in Vaduz bleibst, indem Du in erster Linie Deiner Mutter gehörst. Hoffentlich ist bis dahin der Zustand Eurer lieben Patientin in entschiedener Besserung.

Übermorgen sind meine Ferien zu Ende, und ich muss wieder in's Joch. Das immer schöne Wetter abgerechnet, kann ich leider diese zwei Monate nicht loben - aber man muss sich eben einmal daran gewöhnen, dass es, wenn man im sechzigsten Jahre steht, nicht mehr aufwärts, sondern abwärts geht! Mais laissons çela - wie der Franzose sagt. -

Das schreckliche Ereigniss[1] in Genf hat auch hier natürlich allgemeines Entsetzen verursacht - man kommt schliesslich dahin, dass man sich über gar nichts mehr wundert! Vor 10 Jahren war die Kaiserin drei Wochen lang in Kreuth - auch der Kaiser war acht Tage dort. Wer damals diese schrecklichen Dinge geahnt hätte!

Heute ist der erste Regen gekommen seit vielen Wochen, er hat aber doch noch nicht recht abgekühlt; was im Mai und Juni zu viel war, ist jetzt zu wenig - so kann es der liebe Herrgott seinen unzufriedenen Menschlein nie recht machen. -

Timur[2] und das Spatzenquartett ist brav und die Dienstleute geben (unberufen!) auch keinen Anlass zur Klage. Morgen bekomme ich Holz etc..

Schreibe bald wieder, und wenn Du nichts Wichtiges weisst, so schreibe eben Unwichtiges!

Gruss an Alle -

Dein Onkel
Jos. Rheinberger.

 

 

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[1]Das schreckliche Ereigniss = Am 10. September 1898 wurde die 61-jährige Elisabeth, Kaiserin von Oesterreich, vom italienischen Anarchisten Luigi Luccheni ermordet.
[2] Timur = Rheinbergers Hund