Rheinberger berichtet seiner Nichte Olga über sein Gesellschaftsleben, eine Nachricht von Rheinbergers in Navoo, Amerika, und seine Gesundheit


München den 22.11.00.

Meine liebe, gute Olga!

Das Schreiben der Ansichtskarten ist nur ein augenblicklicher Notbehelf; ich will Dir nun doch wieder einmal einen ordentlichen Brief schreiben.

Heute waren Auracher's da in tiefster Trauer; die E. sagte Du habest ihr geschrieben; das ist recht, denn ich konnte Nichts thun, als einen Kranz spenden. Sie sind Alle natürlich sehr niedergeschlagen.

Wenn ich bedenke, wie meine Bekannten sich so rasch vermindern, so werde ich bald ganz allein sein.

Mir geht es sonst nicht schlecht, die eine Schlaflosig- keit ausgenommen, die sich nicht geben will. Es ist dies auch ein grosser Kummer meiner Köchin Marie, der Du auch einmal ein paar Zeilen schreiben könntest. -

Dass Euer Weinjahr so gut ausgefallen ist, freut mich sehr; es war also doch Deine viele Mühe und Arbeit nicht vergebens. Was hörst Du von Egon? kommt er nie auf Besuch nach Vaduz?[1] -

Ich bin jetzt schon ganz an die Einsamkeit gewöhnt und fürchte, dass Du wohl nie mehr dauernd zu mir kommst. Gegen das Schicksal kann man eben nicht ankämpfen, nur wird es immer melancholischer je älter man wird. -

Deiner Cousine Irene lasse ich danken für die Trauungsanzeige und ihr herzlichst Glück wünschen. Bitte vergesse es nicht!

Meine grosse Freundin in Tübingen ist mir sehr treu; sie schreibt mir tapfer. -

Überhaupt habe ich seit Kreuth wieder viel Damenkorrespondenz. - Die Frau Generalin hat noch immer Krankenstube. -

Ich weiss nicht ob Du Dich an den Prof. Anton Seitz, den berühmten Maler, der dem David so ähnlich sah, erinnerst. Er fiel vor 8 Tagen über eine Treppe und wird nun wahrscheinlich sterben. So gehts an einem fort zu in diesem garstigen München.

Grüsse mir die liebe Emma - wenn sie mir aber nie schreibt, dann ist sie eben keine liebe Emma.

Frl. Ida Amann[2] kommt hie und da auf Besuch - die ist mir auch unter allen Verhältnissen treu. -

Letzthin bekam ich beiliegende Karten. (die Rheinberger's in Navoo Ill. Vereinigte St. America's werden Nachkommen des rothen Hauses sein).

Mit besten Grüssen

Dein Onkel
Jos. Rheinberger.

 

 

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[1] kommt er nie auf Besuch nach Vaduz? = Von 1899 bis 1901 stand Egon Rheinberger als Architekt, Bildhauer und Maler in den Diensten von Fürst Johann II. von Liechtenstein und Graf Hans von Wilczek. Fürst Johann II. liess die Burg Liechtenstein bei Mödling grundlegend restaurieren, und Graf Hans von Wilczek baute die Burg Kreuzenstein bei Korneuburg wieder auf.
[2] Frl. Ida Amann = Frau Ida Cairati-Amann veröffentlichte unter dem Pseudonym Jodocus Perger in der Zeitschrift „Die Musik“ 1905/06 (5. Jg., Band XX) eine Artikelfolge unter dem Titel „Aus Josef Rheinbergers Leben und Schaffen. Nach persönlichen Erinnerungen sowie nach bis jetzt unveröffentlichten Dokumenten.