Samuel de Lange bedankt sich bei Rheinberger für die Zusendung von Sonate Nr. 20 und macht seinem Unmut über die zeitgenössische Musik Luft.


Stuttgart 4. Oct. 1901

Lieber, verehrter Freund.

Das ist Recht dass Du einmal geschrieben und so herzlich und lieb. Dein Brief hat mir grosse Freude gemacht. Ebenso die Zusendung der Sonate Nr. 20[1], das ist eine respectable Composition, dass Nr. 20 aber so schön und jugendfrisch ist, ist das Beste daran, man merkt ihr die 62 Jahre des Componisten gar nicht an. Namentlich hat mich der erste Satz beim Lesen imponiert (ich habe es noch nicht gespielt doch hoffe dieser Tage dazu zu kommen).

Am 25. November[2] spiele ich Dein F-dur Concert und freue mich an dem schönen Werk.

Du schreibst dass Du Dich zurückziehst von der Arbeit, ist die Gesundheit Schuld oder nur Ekel vor dem Treiben der jungen Musiker. Ich gebe Dir Recht dass wir in einer curiosen Zeit leben. Wenn man Mendelssohn oder Schumann mit Verehrung nennt wird man ausgelacht, wenn man sich jahrelang plagt um den Jungen was ordentliches zu lehren sind sie Wagner- Strauss- oder Brucknerianer und schimp- fen in den ersten Reihen der Heilsarmee des Neudeutschthums und die Musik die man zu hören kriegt ist alles eher als erbaulich.

Ich habe gesehen dass Max Reger Dich mit einer Widmung beglückt hat. Mit seiner Orgelmusik habe ich mich redlich Mühe gegeben, doch finde ich dass die Masse Noten (die unmöglich verständlich herauszubringen sind) den fadenscheinigen Gedanken erdrücken. Der Orgelsatz ist einfach scheusslich.

Um Richard Strauss ist nun wirklich schade dass er verrückt ist oder so thut. Der Mann hat ein grosses Talent. Ich habe gehofft, er wird, wenn er Aufsehen erregt hat wieder was Vernünftiges schreiben, doch wird's immer toller. Bruckner kann ich nicht leiden wegen seiner Unbeholfenheit; ich kann in seinen Sachen keine Logik finden.

Die Russen sind mir erst recht zuwider.

Am 23. October mache ich Messias und im Februar Advent- lied von Schumann und Lobgesang von Mendelssohn und wenn ich orgeln will hat Papa Joh. Seb. immer noch was an dem man gesunden kann wenn die andern einen vergiftet haben. Eine rechte Freude macht einem wie mir dann so ein gesun- des, vernünftiges Stück wie die mir gesandte Sonate.

Im Lehrergesangverein machen wir im November Dein „Thal des Espingo“, was meine Sänger sehr entzückt, ich will Dir die beiden Programme senden. Ich danke auch für Zusendung des Catalogs, ich muss mir noch Manches von Dir ansehen. Ich bin noch ganz auf dem Damm, seit vorigen September bin ich hier Director des Konservatoriums und arbeite daran die Jugend in den guten Traditionen zu erziehen. Ich hoffe das noch einige Jahre weiterführen zu können. Mit dem Thema auf meinem Concertstück wollte ich Dich bitten „das Kindlein wiegen zu helfen“ weiter nichts.

Und nun viele herzliche Grüsse, eine gute Gesundheit und Frische und Kraft um noch Manches Schöne zu schaffen, wünscht Dir Dein treu ergebener
S. de Lange.

 

 

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[1] Sonate Nr. 20 = Orgelsonate Nr. 20, op. 196, in F-dur („Zur Friedensfeier“), komp. 1901. Die Sonate ist Rheinbergers letztes vollendetes Werk.
[2] Am 25. November = Der 25.11.1901 ist der Todestag Rheinbergers!