Die Regierung unterbreitet Fürst Johann II. den Rechenschaftsbericht


Maschinenschriftliches Schreiben der Regierung, ungez., an Fürst Johann II. [1]

13.10.1922

Die Regierung Euer Durchlaucht hat die Ehre, in der Anlage den ersten Rechenschaftsbericht [2] ehrfurchtsvoll zu unterbreiten, wie er nach Art. 62 und Art. 93 der Verfassung [3] von der Regierung alljährlich an den hohen Landtag zu erstatten ist.

Als die Regierung im März dieses Jahres ihr Amt antrat, fand sie eine nicht geringe Unordnung in der Geschäftsführung der beiden unmittelbar vorher amtierenden Regierungschefs [Josef] Ospelt und Dr. [Josef] Peer vor, wie dies in dem Rechenschaftsbericht des näheren begründet ist. Diese Nachlässigkeiten in der Amtsführung sowie anderweitige Inkorrektheiten aufzudecken, ist für die gegenwärtige Regierung eine unangenehme und peinliche Aufgabe, der sie sich lieber entschlagen hätte. Allein um der Unzufriedenheit und dem Misstrauen des Volkes nicht neue Nahrung zu geben, musste diese Eiterbeule einmal gründlich aufgeschnitten und gereinigt werden, da nur durch eine wahrheitsgemässe Aufklärung des Volkes dessen stark erschüttertes Vertrauen zu seinen Behörden wieder hergestellt werden kann.

Ferner wurde die Regierung durch die fortgesetzten Provokationen, wie sie besonders im Liechtensteiner Volksblatt erschienen, zu einer entschiedenen Stellungnahme genötigt. Ihre Gegner wurden nicht müde, die Autorität der Regierung herunterzusetzen und durch heftige, wenn auch unbegründete Angriffe zu schmälern, wie ein solcher Angriff an der Spitze des Rechenschaftsberichtes zitiert ist. [4] So sah sich denn die Regierung gezwungen, die tiefbedauerlichen Missstände, wie sie sich unter den Regierungschefs Ospelt und Dr. Peer eingeschlichen hatten, zur Kenntnis der Öffentlichkeit zu bringen. Wenn bei Besprechung der eigenartigen Rolle, welche von den früheren Regierungen bei Weiterleitung der politischen Rekurse gespielt wurde, auch einige Fälle aus der Amtszeit Seiner Durchlaucht des Prinzen Karl angeführt wurden, so geschah dies einzig der Vollständigkeit halber. Keineswegs soll deshalb aber eine Spitze gegen Seine Durchlaucht gerichtet werden; denn es ist der Regierung wohlbekannt, dass Prinz Karl bei seiner, von der ganzen Bevölkerung anerkannten gerechten und gütigen Gesinnung niemals die Initiative zu einer Einflussnahme auf die Rechtssprechung der politischen Rekursinstanz gab. Die Regierung ist der Meinung, sie würde ihre Pflicht gegenüber Euer Durchlaucht, dessen Gnade sie ernannt und dem hohen Landtage, dessen Vertrauen sie erwählt hat, schlecht erfüllen, wenn sie nicht eine wahre und ungeschminkte Darstellung der Sachlage gäbe. Abgesehen davon, dass die Forderung nach einer restlosen Aufklärung in einem ausdrücklichen Beschlusse des Landtages enthalten ist, [5] muss vor allem mit den Missständen aufgeräumt werden, um die Bahn für die notwendigen Reformen frei zu bekommen.

Die Regierung glaubt in diesen Belangen der Zustimmung Euer Durchlaucht sicher zu sein.

Euer Durchlaucht

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[1] LI LA RE 1922/4624 ad 32. Am Kopf der ersten Seite handschriftlicher Vermerk "Serenissmo!". Mit Schreiben ähnlichen Inhalts sandte die Regierung den Rechenschaftsbericht auch an Prinz Franz und an Prinz Karl (LI LA RE 1922/4625 ad 32, Regierung an Prinz Karl, 13.10.1922; LI LA RE 1922/4626 ad 32, Regierung an Prinz Franz, 13.10.1922).
[2] Rechenschafts-Bericht der fürstlichen Regierung an den hohen Landtag, erstattet in der Landtagssitzung vom 12. Oktober 1922
[3] Verfassung des Fürstentums Liechtenstein vom 5.10.1921, LGBl. 1921 Nr. 15.
[4] Das "Liechtensteiner Volksblatt" hatte der Regierung vorgeworfen, in "zahllosen" Sitzungen unbedeutende Angelegenheiten zu behandeln sowie "geheimnisvolle, einseitig politische" Reisen zu unternehmen (L.Vo., Nr. 34, 29.4.1922, S. 1 ("Sonderbar")). Im Rechenschaftsbericht wies die Regierung diese Vorwürfe zurück (Rech.ber. 1922, S. 3).
[5] LI LA LTP 1922/041.