Das "Liechtensteiner Volksblatt" stellt in einem historischen Abriss die Entwicklung der liechtensteinischen Krankenversicherung dar und fordert Verbesserungen


Leitartikel im "Liechtensteiner Volksblatt", nicht gez. [1]

3.2.1923

Krankenversicherung.

Nicht selten tritt bei Aufnahme eines Arbeiters im Gewerbe oder eines Dienstboten im Haushalte und in der Landwirtschaft an den Arbeitgeber die Frage der Versicherung des Arbeiters oder Dienstboten für den Fall der Erkrankung heran. Und nicht selten weiss der betreffende Arbeitgeber nicht, was das Gesetz vorschreibt. Im Nachstehenden sei versucht, eine kurze Übersicht über den Stand dieser Frage und deren Entwicklung zu geben.

Der § 70 der Gewerbeordnung vom 13. Dezember 1915 L.Gbl. Nr. 14 schreibt in seinem ersten Absatze vor, dass jeder Fabriksinhaber verpflichtet sei, sein Hilfspersonal gegen Krankheit zu versichern. Als Hilfspersonal im Sinne der Gewerbeordnung gelten "alle Arbeitspersonen, welche bei Gewerbeunternehmungen in regelmässiger Beschäftigung stehen, ohne Unterschied des Alters und Geschlechtes und zwar sowohl die Gehilfen (Gesellen, Handlungsdiener, Fabriksarbeiter- und Hilfsarbeiter, als auch die Lehrlinge" (§ 36 der Gewerbe Ordnung). Der Begriff Fabriksbetrieb ist in dieser Gewerbeordnung nicht genauer umschrieben.

Die Gewerbeordnung vom 30. April 1910 L.Gbl. Nr. 3 schrieb die Pflicht zur Versicherung des Hilfspersonales allen Gewerbetreibenden vor; die Versicherung hätte bei einer mit behördlich genehmigten Statute versehenen Krankenkasse zu erfolgen gehabt.

Die drei liechtensteinischen Fabriken haben schon seit langen Jahren ihre gut eingerichteten Betriebskrankenkassen und es ist die Krankenversicherung der Fabrikarbeiter bestens geregelt.

Anders stund es, als nach der Gewerbeordnung von 1910 alle gewerblichen Hilfsarbeiter versichert werden sollten. Der allgemeine Liechtensteinische Kranken- und Unterstützungsverein schreibt in seinen Satzungen vor, dass seine Mitglieder erst nach 3-monatiger Zugehörigkeit zu dem Vereine bezugsberechtigt werden. Überdies zahlt dieser Verein nur Taggelder, nicht aber die Arzt- und Apothekerkosten.

Die Gewerbeordnung von 1910 verlangte jedoch folgende Mindestleistungen der Krankenkasse an ihre Mitglieder:

  1. vom Beginn der Krankheit an freie ärztliche Behandlung mit Inbegriff des geburtshilflichen Beistandes sowie der notwendigen Heilmittel;
  2. ein tägliches Krankengeld für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit, und falls diese nicht früher endet, bis zu 20 Wochen; das tägliche Krankengeld beträgt 50 % des aus dem Mittel von 8 Wochen sich ergebenden Lohnes, jedoch nicht weniger als:
    für erwachsene männliche Arbeiter  Kr. 1.20
    für erwachsene weibliche Personen Kr. 1.-
    und für jugendliche Arbeiter Kr. -.80
    Wöchnerinnen erhalten bei normalem Verlauf des Wochenbettes das Krankengeld durch 4 Wochen, bei abnormalem Verlauf entsprechend der Dauer der Erwerbsunfähigkeit bis zu 20 Wochen;
  3. ein Begräbnisgeld von 40 Kronen für die Hinterbliebenen des durch Tod abgegangenen Versicherten.

An Stelle der unter 1 und 2 erwähnten Unterstützungen kann freie Kur und Verpflegung in einem Krankenhause gewährt werden. In diesem Falle hat die Familie des im Spital Verpflegten Anspruch auf die Hälfte des Krankengeldes ihres Ernährers.

Genau die gleichen Bestimmungen gelten auch nach der Gewerbeordnung von 1915 hinsichtlich der von den Betriebskrankenkassen zu gewährenden Mindestleistungen.

Nach Erlass der 1910er Gewerbeordnung wurden dann Verhandlungen mit dem schon erwähnten Liechtenstein. Kranken- und Unterstützungsvereine eingeleitet, die bezweckten, dass dieser Verein seine Satzungen der Gewerbeordnung entsprechend abändern bezw. die gewerblichen Hilfsarbeiter, soweit sie nicht den Fabrikskrankenkassen angehören, unter Gewährung der von der Gewerbeordnung vorgeschriebenen Leistungen aufnehme. Die Verhandlungen zerschlugen sich und auch die von der 1910er Gewerbeordnung vorgeschriebene Gewerbegenossenschaft brachte es nicht zu einer Regelung dieser Frage, wie überhaupt jene alle Gewerbe umfassende Genossenschaft sich nicht bewährte.

Die hiedurch geschaffene Lage in der Krankenversicherungsfrage war mit ein Grund, dass die 1910 erlassene Gewerbeordnung schon 1915 wieder abgeändert wurde.

Hinsichtlich der in anderen Gewerbsbetrieben als in Fabriken beschäftigten Hilfsarbeiter schreibt die 1915er Gewerbeordnung nun vor, dass für den Fall der Erkrankung derselben (mit Ausnahme der im gemeinschaftlichen Haushalte lebenden Familienangehörigen des Gewerbeinhabers), entsprechend vorzusorgen sei. Die näheren Bestimmungen hierüber sind der fürstl. Regierung überlassen worden.

Nach Schaffung dieser Vorschrift sind neuerlich Verhandlungen mit dem allgemeinen Liechtenstein. Kranken- und Unterstützungsvereine eingeleitet und länger geführt worden; jedoch auch diese zerschlugen sich. Die unseligen wirtschaftlichen Verhältnisse während des Krieges und der Nachkriegszeit waren aber einer anderweitigen Regelung der Krankenversicherung für das Hilfspersonal der nicht fabrikmässigen Gewerbebetriebe denkbar ungünstig, so dass eine solche Regelung wieder nicht zustande kam. 1920 hat sich dann Seine Durchlaucht der Landesfürst [Johann II.] für die Kranken-, Unfall- und Altersversicherung persönlich interessiert und der damalige Landesverweser Seine Durchlaucht Herr Prinz Karl [von Liechtenstein] hat die Ausarbeitung eines Gutachtens und von Vorschlägen durch einen schweizerischen Fachmann eingeleitet. Mit diesem Fachmanne blieb dann die Regierung auch noch 1921 in Fühlung und stund damals das Gutachten in naher Aussicht. Wie heute die Sache steht, entzieht sich unserer Kenntnis; doch scheint uns die Frage wieder um so zeitgemässer, als das neue Steuergesetz vorschreibt, dass die Hälfte der dem Lande zufallenden Erbschafts- und Schenkungssteuern zur Aeuffnung eines Fonds für eine Kranken-, Alters- und Invaliditätsversicherung verwendet werden müsse und als nach einer Mitteilung in den "O. N." ein neues Gewerbegesetz durch Herrn Professor [Julius] Landmann ausgearbeitet werden soll.

Über die Versicherung der Dienstboten für den Krankheitsfall bestehen keine gesetzlichen Vorschriften. Trotzdem möchte gar mancher Dienstgeber gerne sein Personal in eine Krankenkasse aufnehmen lassen. Bei dem allgemeinen Liechtensteinischen Kranken- und Unterstützungsvereine kann dies jedoch schwer geschehen, weil dieser Verein, wie schon gesagt, erst nach 3-monatiger Mitgliedschaft Krankengelder auszahlt, und eine andere öffentliche Krankenkasse, die für Dienstboten zugänglich wäre, besteht derzeit leider nicht.

Wenn auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge namhaftes geschehen soll (und es wird etwas geschehen müssen), so wird eines des Ersten die Regelung des Krankenkassenwesens für gewerbliche Hilfsarbeiter und Dienstboten sein.

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[1] L.Vo., Nr. 9, 3.2.1923, S. 1.