Elias Wille schildert seine Auswanderung nach Amerika im Jahre 1906 (5. Folge: Ablehnung der Rekurse gegen die Rückführung)


Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. Elias Wille[1]

12.4.1907

Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.

(Erzählt von Elias Willi)
(Fortsetzung.)

Der Ton, wie das Blatt den Vorfall brachte, zeigte uns, dass man nicht allerorts mit dem neuerlichen Urteil einverstanden war. Ein Weg blieb uns jetzt noch offen, Appellation nach Washington. Diese Appellation war von einem ganz besonderen Umstand begleitet, der es verdient, erwähnt zu werden und der ein eigenartiges Licht auf die Handhabung der amerikanischen Einwanderungsgesetze wirft. Pastor D. versorgte uns nämlich täglich mit Lektüre zu unserer Unterhaltung, meist Schriftchen über das luthrische Missionswesen in den verschiedenen Ländern. Tags vor unserer Appellation überreichte er uns ein solches mit den Worten: Leset dies, dann kommt Ihr durch. Es war ein Artikel aus seiner Feder und behandelte eingehend den Umzug vom alten in das neuerbaute Deutsch-Luthrische Emigrantenhaus, wie notwendig dieser Bau infolge der immer grösser werdenden Inanspruchnahme seitens der Einwanderer geworden sei und dass noch eine bedeutende Schuldenlast auf demselben hafte, zu deren Tilgung die öffentliche Wohltätigkeit in Anspruch genommen werden müsse. Dazu wären wir natürlich gerne bereit gewesen. Das war es aber nicht, was Pastor D. meinte. „Meine lieben Leute, das kann Euch nicht helfen, selbst wenn Ihr 100,000 Dollars zu solchen Zwecken spenden könntet. Lest nur das Blatt aufmerksam durch!"

Weiter unten war wieder ein Artikel über Missionswesen in den Vereinigten Staaten. Demselben war ein Auszug aus einer Rede des Präsidenten Roosevelt eingefügt. Präsident [Theodor] Roosevelt feierte darin die lutherische Kirche als Kulturträgerin in den Verein. Staaten, als die Kirche, die sich am meisten Verdienste um das Land erworben und die denn auch erfreulicherweise einen immer grösseren Aufschwung nehme, zum Besten des Landes. Zum Schluss handelt der Artikel von den zahlreichen Übertritten zur lutherischen Konfession. Also so wars gemeint! Jetzt begriffen wir auch, warum das „Katholisch“ seinerzeit so resigniert geklungen hatte. Pastor D. meinte es gewiss gut mit uns, er drängte uns auch seine Ansicht durchaus nicht auf; um diesen Preis wollten wir uns aber unsere Freiheit denn doch nicht erkaufen.

Der Entscheid aus Washington liess nicht lange auf sich warten. Die ersten Angaben wurden als erwiesen erachtet und das Urteil auf Deportation sei demzufolge aufrecht zu erhalten. Der deutsche Agent brachte uns den Entscheid. „Ihr lieben Leute, Eure Appellation ist abgewiesen worden; es lässt sich jetzt für Euch nichts mehr tun; geht jetzt ruhig nach Hause und in einem Jahr kommt Ihr wieder oder lieber etwas später; Ihr werdet in den verschiedenen Häfen signalisiert und da könnte Euch wieder etwas Dummes passieren; bedenket, es ist eine Schande für junge Deutsche, aus Amerika ausgewiesen zu werden und die Liechtensteiner, sind ja sonst doch helle Leute, also Ihr kommt wieder und benützt diese Adresse, die genügt vollständig."

Mit diesen Worten überreichte er uns einige Adresskarten vom deutschen lutherischen Emigrantenhaus. Dass es eine Schande ist, für junge Deutsche aus Amerika ausgewiesen zu werden, fühlten wir nur zu gut, aber ändern an der Sache konnte dies nichts mehr. Unsere Sache war also endgültig verloren und wir hätten natürlich am liebsten die Rückreise sofort angetreten, jedoch der „Vaderland“ war unterdessen abgefahren.

Abgesehen von den selischen Leiden, die eine Deportation im Gefolge hat, sind die Zustände in den Deportationsräumen derartige, dass ein längeres Verweilen fast unerträglich wird. Über siebentausend Personen waren beständig in diesen Räumen interniert, täglich kamen neue an, täglich wurden mit den verschiedenen Dampfern abgeschoben. Über dreihundert waren wir im selben Raum eingekeilt, Leute aller Nationen: Russen, Polen, Slowaken, Griechen, Bulgaren, Rumänen, Ungarn, Spanier, Italiener, Deutsche, Neger, bunt durcheinander gewürfelt. Was das oft für Leute sind, lässt sich denken, Leute vor denen einem ekelt, strotzend von Ungeziefer, ebenso die Betten, die im Hintenraume angebracht sind. Wir konnten uns nicht entschliessen, diese zu benützen, zogen es vor, uns auf den harten Cementboden zu- legen. Dieser wird allabendlich mit siedendem Wasser aufgewaschen, um die kriechenden Mitinsassen zu vertilgen. Die hier Eingeschlossenen werden auch täglich mit einer sehr stark riechenden Essenz bespritzt, um ein allzu starkes Auftreten derselben zu verhindern.

Recht widrige Szenen spielen sich oft in diesen Räumen ab. Diebstahl und Prügeleien sind nichts Seltenes. Täglich erfolgt sodann Namensaufruf der Internierten, ebenso werden sie täglich gezählt.  Zu diesem Zwecke müssen selbe einen langen Gang passieren, wo in bestimmten Abständen Beamte die Zählung vornehmen. Das geht so ungefähr vor sich, wie wenn eine Herde Vieh zu Markt getrieben wird, immer von einigen Angestellten begleitet, die mit Stöcken bewaffnet sind; bei der geringsten nicht konvenierenden Bewegung oder zu langsamen Vorwärtsschreitens versetzt's Püffe und Stösse nach Noten. Es mag ja sein, dass die herrschenden und alltäglichen Umstände ein solches Vorgehen einigermassen rechtfertigen, aber es liegt doch etwas die menschliche Würde Verletzendes und Erniedrigendes darin, gegen das sich das menschliche Gefühl unwillkürlich emporbäumt und das die so schon traurige Lage doppelt schmerzlich empfinden lässt. Drei Mahlzeiten werden täglich unentgeltlich an die Internierten verabreicht; dies steht in Speisesälen in sieben verschiedenen Sprachen gross angeschrieben. An diesen Mahlzeiten ist denn auch durchaus Nichts auszusetzen.

Eilf Tage mussten wir auf Ellis Island aushalten, wir waren froh, endlich von dieser Teufelsinsel abzukommen, gleichviel auf welche Weise. Nimm nur einmal, lieber Leser, deine Phantasie zu Hilfe und versetze dich im Geiste selbst in die Lage eines Deportierten! Du kommst nach langweiliger Seereise in New-York an, voller Hoffnung und freudiger Zuversicht und nun wie ein Blitz aus heiterem Himmel diese Enttäuschung! Anstatt ans heissersehnte Ziel, hinter Schloss und Riegel, hinter Gitter inmitten der blühenden Frühlingsnatur, in der Nähe einladend und doch nicht erreichbar das Land deiner Träume, deiner Hoffnungen, deines Sehnens und du musst hier sitzen, wochen- vielleicht monatelang, je nach Umständen, eingekeilt in Hunderte deiner Leidensgenossen, in den denkbar traurigsten Umständen und als endliche Erlösung aus diesem Wirrsal winkt Deportation!

(Fortsetzung folgt.)

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[1] L.Vo. 12.4.1907, S. 1 f.