Elias Wille schildert seine Auswanderung nach Amerika im Jahr 1906 (6. Folge: Internierung in Ellis Eiland und Deportation)


 Reisebericht im Liechtensteiner Volksblatt, gez. Elias Wille[1]

19.4.1907

Reiseerinnerungen und Erlebnisse einiger Liechtensteiner.

(Erzählt von Elias Willi)

(Fortsetzung.)

Da wirkt denn die herrliche Prachtentfaltung von Ellis Island recht pessimistisch, ja hohnsprechend auf die Gemüter der Eingeschlossenen und die Stimmung ist denn auch eine den Umständen entsprechende. Nichts wie Tränen, Jammer und Elend! Wer dieser Lage der Dinge in Ruhe gewachsen wäre, dem müsste ja Eiswasser durch die Adern strömen! Gewiss aber könnte das geldstolze und auf seine Humanität pochende Amerika namens der Menschlichkeit etwas Besseres für die so bedauernswerten Opfer, vielfach Opfer seiner Willkür, tun. Wer je in diesen Räumen war, wird der amerikanischen Humanität gewiss kein Loblied singen. Ich muss nun noch bemerken, dass für junge, gesunde und normale Leute, die ihre Geistesgegenwart behalten, von einer Einwanderungsgefahr nicht gesprochen werden kann, so was konnte nur „Unsereinem" passieren. Um die wirkliche Einwanderungsgefahr zu beleuchten, will ich im öffentlichen Interesse die Bestimmungen des Einwanderungsgesetzes hier anführen. Sie sind folgende:

Der neue Ankömmling muss leiblich und geistig gesund und normal und von gutem moralischem Charakter sein; muss mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Reisegeld, geordneten Legitimationspapieren und Adresse am Reiseziel versehen sein; darf kein kontraktliches Arbeitsverhältnis vor der Einwanderung in Amerika eingegangen sein; Passagiere von über sechszig und unter vierzig [2] Jahren, also solche, von denen anzunehmen wäre, sie könnten dem Land zur Last fallen, dürfen nicht als selbstständig gelandet werden, ihr Fortkommen muss verbürgt werden. Alleinreisende Passagiere des schönen Geschlechts müssen im Ausschiffungshafen von ihren Angehörigen in Empfang genommen, eventuell die Behörde über den Passagier verständigt werden. Hat also der Einwanderer irgend eine Krankheit, z. B. Trachoma [3], eine ansteckende Augenkrankheit oder Hautflechte, wird er nicht zugelassen; hat er irgend eine existenzerschwerende Abnormalität des Körpers, z. B. einen Bruch, ein steifes Bein, ja fehlen ihm nur zwei Finger der rechten Hand, wird er zurückgewiesen; ist er geistig beschränkt, desgleichem; ist er irgend eines grössern Vergehens wegen vorbestraft, desgleichen; gibt er vor, in Amerika schon Stellung zu haben, wird er deportiert; fehlt ihm nur die Adresse, läuft er Gefahr, in den Deportationsräumen schmachten zu müssen, bis die seiner Nationalität zuständige Agentur sich seiner annimmt und ihn noch rettet. Auch Nebenumstände führen zur Deportation. Da war z. B. ein junger Russe aus Kalifornien auf Besuch in der alten Heimat; auf seiner Rückreise führte er einen eilfjährigen Jungen mit sich, den er zu dessen Onkel nach San Francisco bringen wollte; der Onkel hätte nun für den Jungen Bürgschaft stellen sollen, tat es aber nicht und der junge Russe musste mit seinem Schützling die Rückreise antreten. Dasselbe Schicksal teilte ein Böhme, der einen jüngeren Bruder zu seinem Onkel nach St. Louis bringen wollte. Eine deutsche Familie, deren jüngstes Kind an Trachoma litt, wurde ohne weiteres deportiert. Oft kommt es vor, dass Familien in New-York zerrissen werden, wenn ein oder das andere Glied dem Gesetze nicht entspricht und wenn sie es nicht vorziehen, insgesamt zurückzukehren. Einhundertfünfzig russisch-jüdische Waisenkinder, deren Eltern bei den Judengemetzeln in Odessa und andern Städten das Leben verloren, wollte das jüdische Hilfskomitee in Amerika versorgen; die Behörde verweigerte aber deren Landung und beschloss, selbe ins alte Elend zurückzuweisen; wie dieser Fall in Washington entschieden wurde, ist mir unbekannt. Dass aber zwei Ungarn im Alter von noch nicht fünfzig Jahre wegen Altersschwäche deportiert wurden, ist fast unglaublich und doch vollendete Tatsache. Ich könnte noch viele Deportationsfälle hier anführen, die gegebenen werden aber zur etwaigen Orientierung genügen. Weitaus die meisten Fälle weist aber Paragraph „Kontraktarbeit“ auf. Ich muss speziell auf diesen zurückkommen, er ist noch neu, datiert vom 8. März 1903. Im vergangenen Septr. wurden in New-York über tausend Personen deportiert: Dreihundertvierundzwanzig als krank, alle übrigen als Kontraktarbeiter. In vielen, ja den meisten Fällen beruhen deren Angaben auf Unwahrheit, Sinnlosigkeit, Selbsttäuschung; aber es hilft hinterher kein Richtigstellenwollen der Tatsachen, kein Bitten und kein Flehen, weder Gesuche noch Appellationen, auch keine Protesteingaben der Mächte, es hilft alles nichts, was einmal protokolliert, das bleibt, Onkel Sam ist unerbittlich. Darum noch einmal: Geistesgegenwart bewahren, sich nicht verwirren lassen; es wird in New-York auf alle mögliche Weise versucht, die Passagiere einzuschüchtern; es wird ihnen gesagt: „Wenn Ihr kein Arbeit habt, können wir Euch nicht landen lasse, wir wollen keine Landstreicher haben!“ Das ist aber eine Finte, die Leute einzuschüchtern, zu einem Geständnis zu verleiten; wer naiv genug ist, darauf herein zu fallen, büsst’s mit bitteren Nachwehen. Es kann nicht genug davor gewarnt, den Leuten eingeschärft und ans Herz gelegt werden, doch ja diese Torheit nicht zu begehen; es kommt immer wieder vor, täglich bringen die Blätter solche Fälle. Doch ich bin vom eigentlichen Thema abgekommen und will nun wieder zum selben zurückgreifen.

III. Deportiert

Der „Kroonland", ein Dampfer derselben Gesellschaft und vom Typus des „Vaderland", lag seit 6. Mai vor Anker. Mit diesem wurden wir jetzt zurückgeschickt. Freitag, den 11. Mai wurden wohl mehr als Hundert zur Deportation Verurteilte auf die verschiedenen Dämpfer abgeschoben, auf dem „Kroonland" waren wir zwölf. Wir wurden unter polizeilicher Eskorte überführt und ungefähr so dem „Kroonland“ übergeben, wie Verbrecher den Händen der Gerechtigkeit übergeben werden. Wir waren die ersten Passagiere an Bord, die Einschiffung der andern erfolgte nachmittags. Andern Morgens um 9 Uhr trat der „Kroonland" unter den üblichen Zeremonien die Rückreise an. Unsere Deportation blieb unter den Passagieren nicht lange verschwiegen. Wir konnten nun die Wahrheit des Sprüchwortes: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen," zur Genüge an uns erfahren. Wir wurden weidlich ausgelacht. Wir taten, was in solchen Fällen das Beste ist, wir schwiegen oder lachten mit.

(Fortsetzung folgt.)

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[1] L.Vo. 19.4.1907, S. 1 f.
[2] Gemeint ist vermutlich „vierzehn“.
[3] Bakterielle Augenentzündung.