Die Ostschweiz vergleicht die beiden Liechtensteiner Parteien mit der Schweizer Parteienlandschaft


Zeitungsbericht, nicht gez. [1]

16.1.1926

Die Parteien in der Schweiz und im Ländchen

Das Ländchen ist unser benachbartes Fürstentum Liechtenstein und ein Vergleich der Parteien ist gerade in der st. gallischen Presse nicht ganz überflüssig, weil vor und nach den Wahlen vom letzten Sonntag, an dem die Liechtensteiner nach einem ausserordentlich heftigen Wahlkampf ihren Landtag neubestellt haben, teilweise in unserer Presse ganz falsche Vorstellungen verbreitet wurden, erst vorgestern noch im „St. Galler Tagblatt“, wo der Eindruck erweckt werden wollte, als ob die sog. regierende Volkspartei im Liechtensteinischen identisch wäre mit unserer freisinnigen und die oppositionelle sog. Bürgerpartei mit unserer konservativen Volkspartei. Das ist nichts anderes als eine den Tatsachen widersprechende Irreführung der öffentlichen Meinung.

Die Volkspartei hat in der Wahlkampagne ihr Partei- und Arbeitsprogramm in allen Häusern des Ländchens verteilt. Ein solches liegt uns vor. Darin steht unter den grundsätzlichen Erklärungen, dass sie eine auf dem Boden katholischer und geschichtlicher Weltauffassung fussende Politik verfolge. Alle kulturellen Fragen will die Partei nach den unverrückbaren Grundsätzen des Christentums geregelt wissen. Sie verlangt religiöse Jugenderziehung. Kurz, sie steht etwa auf dem Standpunkt unserer st. gallisch konservativen Volkspartei mit einem besonderen Einschlag nach christlichsozialer Seite. Im jetzigen Parteiprogramm nennt sich die Volkspartei Liechtensteinische Volkspartei.

Die Bürgerpartei hat seinerzeit einige Programmpunkte herausgegeben; auf diese Wahlen jedoch nicht. Im allgemeinen kann gesagt werden, dass beide Parteien in religiöser Hinsicht auf dem Boden katholischer Weltauffassung stehen. Die Bürgerpartei bemüht sich, diesen ihren Standpunkt gegenüber der andern Partei besonders hervorzukehren. Die Volkspartei setzt sich zusammen aus wackern Bauern, Handwerkern und Arbeitern; letztere arbeiten vielfach in der Schweiz. Eine sozialistische oder gar liberale Partei gibt es im Lande nicht. Der Gegensatz zur Bürgerpartei lässt sich aus der besonderen geschichtlichen Entwicklung in Liechtenstein erklären. Die Bürgerpartei ist die Nachfolgerin der alten Herrenpartei und ist daher viel zurückhaltender. Sie enthält in ihren Reihen vielfach Leute, die sich über die misera plebs weit erhaben fühlen. Dagegen enthält die Volkspartei insbesondere auch die junge aufstrebende Bevölkerung, gepaart mit älteren Leuten, besonders Kleinbauern, Handwerker und Arbeiter. Sie ist fortschrittlicher, obwohl auch die Bürgerpartei sich als fortschrittliche Bürgerpartei bezeichnet hat. Der Gegensatz zwischen der alten und neuen Zeit wird sodann ergänzt durch das Persönliche, das bei der Kleinheit der liechtensteinischen Verhältnisse besonders in die Politik hineingetragen wird. Die Volkspartei lehnt sich mehr an schweizerische Verhältnisse an, die Bürgerpartei mehr an österreichische. Aus diesem Umstande ergeben sich manche Gegensätze.

Grossen Eindruck machte die Veröffentlichung eines Berichtes der Geschäftskommission des Landtages aus den Geheimakten der früheren Regierung. Was da an persönlichen Besudelungen, Verunglimpfungen und Heimlichkeiten an den Tag kamen, spottet jeder Beschreibung. Die alte Richtung hat sich damit ein Verdammungsurteil gesetzt. Es ergab sich insbesondere auch, in welcher Art und Weise im Geheimen von früheren politischen Führern Geld für sich und ein Blatt bezogen wurde.

Diese paar aufklärenden Bemerkungen waren notwendig, um gewisse polit. Legendenbildungen zu verhüten. Im übrigen hoffen wir, dass sich die Gemüter des sympathischen und regsamen Nachbarvölkleins über dem Rhein nun wieder beruhigen werden, um sein hoffnungsvoll begonnenes Aufbauwerk weiterführen und vollenden zu können.

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[1] Die Ostschweiz 16.1.1926 (LI LA SgZs 1926).