Der in Gründung begriffene neue Gewerbeverein fordert zum Schutz des einheimischen Gewerbes Einschränkungen der Gewerbefreiheit


Zeitungsbericht, nicht gez. [1]

14.1.1925

Liechtensteinischer Gewerbeverein.

Über 60 Vertreter aus liechtensteinischen Gewerbe- und Handelskreisen beschlossen am 7. Dezember vorigen Jahres (anlässlich eines Vortrages des st. gallischen Gewerbereferenten Herrn E. Tanner) im Sinne der Anregung von Hrn. Abgeordneten St. [Stephan] Wachter die Gründung eines liechtensteinischen Gewerbe-Verbandes, welcher liechtensteinisches Gewerbe, Handel und Industrie umfassen soll.

Dieser einstimmige Beschluss einer von Gewerbe- und Handelskreisen selten gut besuchten Versammlung ist eine Kundgebung der Überzeugung aus diesen Kreisen heraus, dass nur im Handel und Gewerbe selber die interessierenden Fragen gelöst werden können und dass die erste Voraussetzung einer glücklichen Lösung eine umfassende Organisation ist. — Liechtensteinischer Handel, Gewerbe und Industrie begrüssen Einrichtungen, die der Gesetzgeber zur Verfügung stellt (Wirtschaftskammer); aber sie sind überzeugt, dass von der Seite vornehmlich administrative Hilfe kommen kann, dass aber letzten Endes in Handel und Gewerbe selber die Initiative zur Besserstellung des Standes, zur materiellen und ideellen Hebung der einzelnen Berufsgruppen liegen muss — dass Berufsfreude und Berufsehre hier gehoben und gepflegt werden müssen. Der Gesetzgeber kann zu all dem die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen. Solche Voraussetzungen aber anzuregen, das Erreichte auszuwerten, ist wiederum nur Sache von Handel und Gewerbe selber. Institutionen als Drittpersonen können das nicht und sind dazu auch nicht berufen.

Grosse Organisationen, besonders der Arbeiter und Landwirtschaft, haben manchenorts Grosses erreicht, wenn sie in geschlossener Front ein Ziel verfolgten. Der Gesetzgeber trug angesichts der Macht, der er sich gegenüber sah, berechtigten und auch unberechtigten Forderungen Rechnung. Der Gesetzgeber Liechtensteins wird sich keinen unberechtigten Forderungen des liechtensteinischen Gewerbeverbandes gegenüber sehen. Wohl aber wird der Verband, in Wahrung der ihm anvertrauten Interessen, heute und immer seiner Erwartung bestimmten Ausdruck geben, dass seine berechtigten Wünsche gehört und berücksichtigt werden, angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung eines gesunden Handels-, Gewerbe- und Industriestandes und angesichts der Steuererträgnisse, die aus diesen Ständen fliessen.

Der neue Verband bildet sich heute als freie Vereinigung, nicht als Zwangsorganisation. Als freie Vereinigung wird er seine Lebensfähigkeit beweisen.

Der liechtensteinische Gewerbeverband steht auf dem Boden der Beschränkung der Gewerbefreiheit. Er redet nicht dem Zünftesystem das Wort, das in seiner Verfallzeit durch engherzige und kurzsichtige Vorschriften jede Entwicklung von Handel und Gewerbe unterband und auch an seiner Engherzigkeit zugrunde ging. Es folgte dann das Extrem der Gewerbefreiheit, zu der die französische Revolution den grossen Auftakt gab, die in ganz Europa seinerzeit Nachahmer fand. Der Verband müsste sich mit allen Mitteln gegen Bestrebungen wehren, die heute bei uns auf das System Gewerbefreiheit hinzielen würden.

Gewerbefreiheit entspricht vielfach Gewerbemissbrauch. Der Wegfall von Nachweis an Berufstüchtigkeit, Berufssitten und Standesmoral öffnet, wie Beispiele gezeigt haben, jeder Skruppellosigkeit die Türe und bringt schwere Störungen in das Erwerbsleben. Es ist eine falsche Auffassung von Demokratie, die dem freien Wettbewerb mit seinen Auswüchsen das Wort redet. Solche Auswüchse sind: Konjunkturjägerei, verschiedene Praktiken zur Erhöhung des Absatzes durch Täuschung der Kundschaft, unlauterer Wettbewerb, Preisunterbietungen bis zum Bankerott, der, je nach Umfang, reelle Lieferanten und ganze Berufsgruppen schwer schädigen kann. Es ist dem Tüchtigen volle Gelegenheit geboten, auch im Rahmen der Gesetze, die die Gewerbefreiheit beschränken, Tüchtiges zu leisten.

Der liechtensteinische Gewerbeverband steht somit dem Prinzipe nach auf dem Boden unserer heutigen Gewerbegesetze. Er wird aber daraufhin arbeiten, die Gesetze auszubauen; z. B.: Verschärfung der Befähigungsnachweise (Lehrlingsprüfungen), genaue Abgrenzung der verwandten Berufszweige (siehe Baugewerbe); denn einer Forderung erhöhter Befähigungsnachweise muss ein erhöhter Schutz gegenüber stehen, sonst hat das erste keinen Sinn. Gewerbeverleihungen: Der Verband teilt die Anschauung, dass Staatsverträge der Gegenseitigkeit aus wirtschaftlichen und moralischen Gründen loyal eingehalten werden müssen; aber er sieht nicht ein, warum nicht auch vor der Gewerbeverleihung das Gutachten bei den Berufsverbänden eingeholt werde, genau so wie es anderswo praktiziert wird, besonders wenn es sich um Ansuchen von Ausländern handelt. Das schadet der Gegenseitigkeit nicht, könnte aber voreilige Verleihungen verhindern.

Der liechtensteinische Gewerbeverband hat nicht die Absicht Berufsverbände aufzulösen, sondern im Gegenteil sie zu festigen, nötigenfalls neue zu gründen. Gewerbeverband und Berufsverbände haben das gleiche Ziel: die Interessen des liechtensteinischen Gewerbes, Handels und Industrie nach besten Kräften zu wahren und zu fördern. Der Verband sucht sein Ziel durch folgende Mittel zu erreichen:

„Anregung und Besprechung von „Gesetzesvorlagen, Einwirkung auf Behörde und Presse, Verbesserung des öffentlichen Submissionswesens, Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen solcher, Sorge für tüchtige Berufsbildung und besondere Pflege des Lehrlingswesens, Abgabe von Gutachten an die Behörden der Verwaltung und Gesetzgebung in Fragen, die Gewerbe, Handel oder Industrie interessieren. Solche Fragen können allgemeiner und lokaler Natur sein und sind insbesondere: Verleihung von Gewerbe und Konzessionen, Dispensen von Dauer der Lehre und Befähigungsnachweisen, Umfang der Gewerberechte, Charakter des Unternehmens (handwerksmässig oder fabrikmässig), Übertragung von Gewerben u. Konzessionen."

Der liechtensteinische Gewerbeverband, dessen Gründungsversammlung nächsten Sonntag stattfinden wird, dient in seinen Absichten nicht nur Verbandsinteressen, er dient auch den Interessen der Allgemeinheit.

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[1] L.N. 14.1.1925, s. 1.