Martina Gstöhl an ihre Schwester Balbina Gstöhl über Zeitmangel und Neid, einen Gattenmord in Ludesch mit Strychnin, die Ermordung eines schwangeren Mädchens durch den Kindsvater, den eigenen Gesundheitszustand, die Wünsche nach einem Wiedersehen sowie die wirtschaftliche Lage der Arbeiter


Handschriftliches Originalschreiben der Martina Hartmann [-Gstöhl], Ludesch (Vorarlberg), an ihre Schwester Balbina (Marie Balbina Öhri [-Gstöhl]), Spencer (Nebraska) [1]

16.12.1928, Ludesch (Vorarlberg)

Liebe Schwester u. Famielie! [2]

Bitte um Entschuldigung
wegen so später Antwort.
Jeden Morgen schon lange
her, dachte ich, aber heute muss [3]
ich unbedingt schreiben, es
wurde Abend u. wieder hatte ich
nicht geschrieben. Ich bringe bald
meine Hausarbeit nicht mehr fertig.
Ich habe mitunter den Kopf zu
voll [4]
Man kann hier auch vieles mit
machen, denn der reiche Bauer
liebt den Arbeiter auch nicht immer
von Herzen. Wenn man in
der Miete ist, muss man halt
zu allem ja sagen u. so weit
das Geld reicht immer bezahlen,
sie wissen eins schon auszu-
saugen. Hier in Ludesch herrscht
der Neid furchbar. Auch kann
man alles bald haben hier. Es
ist kaum einige Wochen her, dass
eine Frau ihren Mann mit
Strichnin vergiftet hat. Sie hatte [5]
mit einem Tiroler ein Liebes-
verhältniss unterhalten, der
Bauer ihr Mann war schon 40
Jahre alt, sie war noch jung,
dann wollte sie den alten
reichen Kerl weg haben. Der
Tiroler natürlich war auch ein-
verstanden, den das Geld hätte
man schon brauchen können.
Durch den Knecht welchen sie hatten,
kam die Sache sobald der Bauer
gestorben auf, der Knecht war nicht
ganz normal, aber doch nicht so dumm
u. machte am Morgen schon, als der
Bauer in der Nacht unter furchbaren [6]
Schmerzen gestorben, bei seinem
Vetter verschiedene Aussagen,
was der Bauer schon längst zu
ihm gesagt, er glaube man wolle
ihn vergieften, er fühle sich schon
lange her nicht mehr wohl. Der
Vetter machte die Anzeige, u.
die Sache kam zur Untersuchung,
es wurde der Magen, das Herz u.
das Hirn zur Untersuchung nach Wien
geschickt u. dort stellte es sich herraus,
dass man ihm schon länger her Strich-
nin gegeben, aber immer eben zu
wenig, er hatte dann nur so sonder-
bare Anfälle bis an einem Abend
da müssen sie ihm ziemlich viel [7]
gegeben haben, da habe er schwere
Anfälle bekommen, man holte den
Arzt, wiewohl dass es die Frau
nicht gestatten wollte, er hatte
Herzkrämpfe, die Frau sagte der
Doktor mache ihm Einspritzungen
u. dan sterbe er noch früher, ihr
war es aber wegen der Sache auf die
Spur zu kommen, der Arzt wurde
einfach gerufen, er hatte ihm so
weit wieder geholfen, dass er wäre
gerettet gewesen, da haben die
zwei Lieben, in der Medizin
mit Gift aber derart nach geholfen,
dass er daran gestorben ist. [8]
Es ist schon furchbar so etwas
in einer solchen kleinen Ge-
meinde. Jetzt sein beide ein-
kastelt. Seither ist aber im Vor-
derland wieder ein solcher
Fall vorgekommen, aber dort
war es ein Mädchen, welches einem
Burschen im Weg rum ging,
u. zudem war das Mädel noch
in der Hoffnung, er hat sie durch
eine Hebamme bei einer Auto-
fahrt vergiften lassen. Man
weiss bald nicht mehr was
man denken soll, von der
heutigen Welt. Unsere Käthe [Katharina]
sagt dann. Die jungen Leute [9]
sind gar nichts mehr nutz,
wenn sie’s nur immer glaubt. [10]
Wie geht es Euch, schreibe einmal
was ihr Alle umtreibt, was
betreibt der Sohn der verheiratete
wo ist Pia / Tochter, wo ist der
jüngste Sohn, was macht derselbe.
Käthe möchte das Fabrikleben
auch ändern, gegen Lichmess.
Über Weihmachten u. Neujahr
bleiben die guten Plätze be-
setzt. Wie geht es euch beiden,
bei mir lässt sich das Alter schon
stark merken. Andreas [Öhri] sagte,
dass Du 90 Kg. wiegest, ich kaum [11]
60 Kg. Gotha ist auch getorben
im Frühjahr. Von Schniderles
Mariele der Bua hat geheiratet mit
am Mädel von Gotha Burgas
Mathilda. Wie geht’s am Madlele
u. der Famielie, was machen sie
alle. Andreas Paula hat uns ge-
schrieben, wir sollten ihr Antwort
senden, aber wir können die Adresse
zu wenig richtig herausfinden.
Könntest Du uns vielleicht selbe
senden im nächsten Brief, aber
nicht vergessen, weder auf das Schreiben
noch auf die Adresse. Wir sind neu-
gierig wann ihr einmal herraus kommt.
Ich werde es nicht mehr erleben, denn [12]
ich bin gegenwärtig schlecht bei-
sammen, furchbar Herzklopfen, Atem-
not, u. der Husten bereits das
ganze Jahr, u. jetzt schon viele
Wochen immer Kopfschmerzen im
Hinterkopf. Ich bin furchbar Blut-
arm. Andreas wird es wohl
gesagt haben, er sagte zu mir,
bist jetzt Du mager, da ist
Deine Schwester schon schwerer.
Wann werdet ihr einmal her-
aus kommen. Käther möchte
gerne nach Amerika gehen,
wenn sie wüsste, dass sie es dort [13]
besser bekommen würde als hier.
Ich glaube es ist jetzt überall
gleich, wenn man zu nichts auf
der Welt ist kommt man auch
zu nichts. Hier der wo etwas
anfangen kann, ein Handel od.
Bauerschaft, od. Wirtschaft die machen
heute Geld, u. der Arbeiter muss
zufrieden sein, wenn er für
3 mal im Tag das Essen auf-
treibt. Nach der Zeitung ist
es mir scheint auf der ganzen
Welt so. [14]

Wir wünschen euch
allen ein gutes neues Jahr.
Möge der Herrgott euch noch recht
viele, viele Jahre gesund u.
fröhlich beisamen erhalten.
Auch Allen den andern wünschen
wir viel Glük im neuen Jahr
nebst vielen herzlichen Grüssen,
u. ein baldiges Wiedersehen
hier. Wir möchten Deine Famielie
gerne persönlich kennen lernen. [15]

Nochmals viel Glück
im neuen Jahr
nebst vielen herzlichen
Grüssen von Kathe
u. Deiner Schwester.

______________

[1] LI LA PA 016/3/11/16.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „muẞ“. Das Eszett wird im Folgendn zu „ss“ umgewandelt.
[4] Seitenwechsel.
[5] Seitenwechsel.
[6] Seitenwechsel.
[7] Seitenwechsel.
[8] Seitenwechsel.
[9] Seitenwechsel.
[10] Unterstrichen.
[11] Seitenwechsel.
[12] Seitenwechsel.
[13] Seitenwechsel.
[14] Seitenwechsel.
[15] Seitenwechsel.