David Bühler an Wilhelm Marock über die Jahrhundertwende, die Vergänglichkeit auf der Erde, den schweren Unfall des Andreas Marock, die Finanzierung des Theologiestudiums von Urban Marock, die Tätigkeiten von Jakob Marock, Ferdinand Marock und Gottfried Marock sowie eine Reise nach Wien zu seinem Vater Georg Bühler


Handschriftliches Originalschreiben des David Bühler, Mauren, an Wilhelm Marock, Hammond (Indiana) [1]

02.01.1900, Mauren

Lieber Wilhelm!

Im Namen u. im Auftrage Deines Bruders Andreas [Marock] [2]
sowohl, als auch um meinen Gefühlen beim Antritt des neuen
Jahrhunderts Ausdruck geben zu können, greife ich zum Kiel,
um einige Zeilen an Dich zu richten. Zum ersten muss [3] ich
bemerken, dass es mir auffallend vorkam, von Dir, als
von einem praktischen Politiker [4] den Ausdruck „zur Wende
des Jahrhunderts“ zu lesen. Die Europäischen Gelehrten streiten
sich schon längst, ob das neue Jahrhundert mit dem 1. Jänner
1900 oder 1901 beginne, wobei Stoff für Zeitungen zur
Behandlung dieses Cassus zur Genüge zu Händen liegt.

Es ist wahr, die Fortschritte, die der Menschliche Geist im vergan-
genen Jahrhunderte leistete, sind in Anbetracht der verhältniss-
mässigen Kürze eines solchen Zeitabschnittes von jedem Denker
anzustaunen. Doch ist es dem Menschen noch nicht gelungen,
ein vom Höchsten abgesprochenes Lebenslichtlein nur eine
Sekunde zu verlängern u. vergänglich ist alle Kunst u. Wissenschaft,
vergänglich alle Neuerungen, vergänglich überhaupt, das bunte
Treiben auf unserm Erdballe für jeden Einzelnen.

Unvergänglich dagegen scheinen mir die drei schönschten
Tugenden zu sein u. Du wirst mir nichts bestreiten, wenn
ich hiemit – Glaube, Hoffnung u. Liebe bezeichne.

Sind diess nicht drei innhaltsschwere, tröstende Worte? [5]

Auch Du, mein liebster Freund, scheinst von denselben
beseelt zu sein, was ich aus Deinen lieben u. rührenden Briefen
ersehe. Denn, der Glaube [6] an einen Gott ist Dir, trotzdem Du
Dich im grössten Gewühle der verdorbenen Grossstädten bewegst
Gott sei gedankt! noch nicht entfallen. Ferner hoffest [7] Du ja,
Deinen lieben Herzenswunsch in Wirklichkeit zu bringen, wenn
Du uns eine Freude bereitest, welches gewiss die grösste sein
wird, die uns hienieden zu geniessen vergönnt ist, nämlich
unsern 36 Jahre lang abwesenden Wilhelm schon nach einem
Jahr u. sieben Monaten in unsere Arme schliessen zu können.
Wie wirst Du uns allen Willkommen sein!

Endlich freut es mich zu lesen, das Du die Liebe [8] zu Deinen
Angehörigen besonders aber auch die Liebe zu Deinem lieben
Heimathlande trotz Deiner langen Abwesenheit noch nicht ver-
verloren. Doch wie könnte diess ein Liechtensteiner, da ja der
liebe Gott, bei Schaffung der Welt, für ihn die schönste Parzelle
vom grossen Complexe [9] ausersehen hat.

Drum lebe dreimal hoch, unser liebstes Vaterland.

Nun muss Dir noch berichten wie es hier geht.
Fürs erste wurde Dein Bruder Andreas [10] von einem schweren
Unfalle betroffen. Vor 8 Tagen nämlich führte er sein Pferd
zur Tränke, wobei das sonst treue Thier ihm aus Muthwillen
einen fruchtbaren Hufschlag ins Gesicht versetzte. Die Verwundung
war so schwer, dass wir Pfarrer [Gustav Burgmayer] u. Artzt zugleich riefen.
Nach näherer Untersuchung des Artztes erklärte derselbe jedoch,
dass die Verletzung zwar stark aber nicht lebensgefährlich sei.
Der rechte Backenknochen war ganz, der linke theilweise
eingeschlagen, der Oberkiefer war sammt den Zähnen ganz
eingeschlagen u. die Zähne zeigten gegen die Schlundröhre.
Zudem war der Gaumen gesprengt, eine Ader gerissen u.
der Mund gespalten. In dieser Situation musste der [11]
Andreas [12] in das neue Jahr spatzieren. Es scheinen
demselben diverse Schiksalsschläge geradezu auferlegt zu sein,
denn von solchen Missgeschiken, besonders von körperlichen
Beschädigungen wird er beinahe jährlich heimgesucht worum
er gewiss zu bemitleiden ist, da bei seinen sehr gemessenen
finanziellen Verhältnissen die Studiengelder des Urban [Marock]
ihm Arbeit genug verschaffen. Es hat wirklich grosse Mühe
u. Opfer gekostet, für einen schwach bemittelten Mann
dieses Vorhaben zu verwirklichen. Und doch kann er
wieder einestheils beruhigt sein. Denn wie ein Wunder
ist in der grössten Noth schon öfter für den Urban eine
Hilfsquelle [13] gesprungen u. zwar etliche Mal so unerwartet,
dass es schien, die Hilfe komme direkt von oben.

Das lutzische Stipendium [14], dann ein Zuschusslegat u. ein
aussergewöhnlicher Zuschuss von der Landeskasse bezieht er
jährlich. Dennoch reichte diess natürlich für seine Ausgaben
nicht aus. Besonders vor 2 Jahren in Schwyz [15] u. auch
jetzt noch im Priesterseminar [16] sind die Ausgaben gross.
Vor zwei Jahren schrieb Urban auch einen Brief an seinen
Onkel, Deinen Bruder Josef [Marock] [17] den Altarbauer [18] in Broadway,
St Louis [19]. Ohne an etwas zu denken, schilderte er
in schlichten Worten die Lage seines Vaters u. die theil-
weise Noth. Nach kurzer Zeit langte von Amerika [20] ein
Wechsel, auf 500 Francs lautend an Urban hier an
u. Du kannst Dir die Freude der Familie denken. Das
Geld wurde theilweise von einem bischöfl. Kanzler von
dorten, dem die Worte des Urban zu Herzen gegangen, [21]
theils durch eine vom Vetter Josef [22] durch eine veranstaltete
Sammlung aufgebracht. Auch dieses Jahr sollte ein sonder-
barer Zufall vorkommen, denn am gleichen Tage, an
dem der Andreas den furchtbaren Hufschlag von seinem
Pferde bekam, langte ein Brief von Josef [23] an, welcher
schreibt, der Kanzler werde 200 Francs an Urban
abgehen lassen. Glück auf Unglück bald ein grau-
siger Schlag, bald eine unerwartete Freude, ist diess
nicht ein abenteuerliches Leben? Und jetzt wieder
diese Freude, dass Du uns besuchst. Mit Sehnsucht sehen wir
dem Augenblike Deiner Ankunft entgegen u. wir hoffen,
dass Du Dich längere Zeit in der Sommerfrische bei Deinen
Angehörigen aufhalten u. durch lustwandeln in den
heimatlichen Fluren erholen wirst.

Meinem Collegen Anton Real [24], den ich allwöchentlich treffe,
habe ich die Botschaft gemeldet. Auch er freut sich u. lässt
Dich grüssen. Dann eine herzliche Gratulation u. Gruss von
Theobald Kirchthaler.

Ich sende Dir beiliegend auch meine Photographie [25]
aber Du musst entschuldigen, dass mein Gesicht etwas
verwischt ist, denn ich schwitzte kolossal bei der Aufnahme.
Nun, Du wirst schon zufrieden sein, wenn Du Dir nur
einen kleinen Begriff von meinem Umfange
machen kannst. Mir und der Mina [Wilhelmine Bühler [-Marock]] geht es so
ordentlich u. wir rupfen fleissig an dem Überflusse
der Erde um so geradeweg unser Durchkommen finden
zu können, ohne die Spaarkassen mit unseren
Vorräthen zu belästigen. [26]

Deine Mutter [Genofeva Marock [-Meier]] ist noch zwar, wie Du auf dem Bilde
gesehen haben wirst, kein Riese mehr, sonst aber noch gesund
u. arbeitet oft noch trotz einer Jungen.

Der Bruder Jakob [Marock] hängt an der gegenwärtig gut
bezalten Stikerei.

Ferdinand [Marock] verfertigt, sobald die Winterkälte anrückt
die feinsten Salonholzschuhe. Zu Sommerszeiten verwandelt
er die Erde zu Brennmaterial, führt dieses Product in die
Schweiz u. die Äpfel u. Birnen von dort nach Feldkirch,
um auch etwas an der Hebung des Weltverkehrs beizutragen.

Der Gottfried [Marock] ist Säger in Feldkirch. Nachdem er einige
Finger abgeschnitten hatte, wurde er Benützer der Unfall-
versicherung, die ihm gut zu statten kommt.  

Der Andreas [Marock] ist Grosshändler u. hat theilweise die
Feder hinter dem Ohr u. dann plötzlich wieder die Mistgabel
in der Hand.

Also Du siehst dass sich Deine Brüder in Mauren
gut avenchiren [27] [28] u. das Ende des Transvallkrieges [29]
ruhig abwarten. Der Zustand des Andreas hat gut
gebessert u. die Heilung nimmt einen schönen Verlauf, jedoch
dürfte es noch lange andauern, bis er gehörig essen kann
u. er wird sich noch lange mit flüssigen Speisen begnügen
müssen.

Auch mein Vater [Georg Bühler], der diesen Sommer zwei Brückenbauten
in der Herzegowina errichtete, ist in Wien krank.
Er hat sich aus der heissen Gegend ein hitziges Fieber geholt,
das sich nun wieder gelegt hat u. gestern bekam ich [30]
ein Schreiben, von einem Freunde aus Wien, der berichtet,
dass sich sein Zustand täglich bessere.

Vor 14 Tagen habe ich ihn in Wien besucht, was ihn
sehr freute, da er mich schon 4 Jahre nicht gesehen hatte.
Bei dieser Gelegenheit kam ich auch die Sehenswürdigkeiten
von Wien zu besichtigen, da mich mein dort weilender
Freund Batliner überall einführte. Auch Wien [31], die gemütliche
alte Kaiserstadt stellt sich neben jede Grossstadt der Welt
besonders in Bezug auf Kunst u. Wissenschaft. Da mir
hauptsächlich über Neujahr viele Geschäfte obliegen konnte
mich nur 4 Tage in Wien aufhalten u. musste nachher
nach Mauren [32] zurück.  

Du fragst wie das Poppkorn gerathen sei. Ausgezeichnet.
Mir waren im Garten etwa 12 Pflanzen entsprossen.
Ein Freund sagte mir, pah, diess ist weiter nichts als ameri-
kanischer gewöhnlicher Mais u. ich Dummer hake alles nieder
bis an 2 Stengel; nun erhielt ich 6 Kolben u. wie schade.
Als das Popen im Dezember begann konnte ich mich an der
vorzüglichen Frucht nicht satt essen u. habe den restlichen Saamen
wie ein Heiligthum aufbewahren.

Wenn es Dir nicht zuviel Mühe u. Kosten machen würde
thäte mich Saamen von Fesenkorn u. Süsskartoffel schon
sehr freuen. Jedoch müsste um Anleitung zum Pflanzen
u. Kochen bitten.

Ich danke z. Voraus herzlich, für Deine Zuvorkommenheit.
Zum Schlusse wünscht Dir Andreas u. die Seinen viel Glück
zum Jahreswechsel.

Besonders aber grüsst Dich u. Deine Familie u. wünscht

Euch alles Gute

Dein Freund
David Bühler [33]
u. Mina [34]

______________

[1] LI PA Marco Bühler. Brief in Kurrentschrift. Blauer Geschäftsstempel am linken Briefkopf: „David Bühler Geschäftsagent Mauren Fürstenthum Liechtenstein“.
[2] In lateinischer Schrift.
[3] Ursprüngliche Fassung: „muẞ“. Das Eszett wird im Folgenden zu „ss“ umgewandelt.
[4] In lateinischer Schrift.
[5] Seitenwechsel.
[6] Unterstrichen.
[7] Unterstrichen.
[8] Unterstrichen.
[9] In lateinischer Schrift.
[10] In lateinischer Schrift.
[11] Seitenwechsel.
[12] In lateinischer Schrift.
[13] In lateinischer Schrift.
[14] Vgl. Annette M. Bleyle: Das Pfarrer Lutz-Stipendium. In: Alemannia Studens 7/1997, Regensburg, S. 23.
[15] 1897-1898 Philosophiestudium am Kollegium Maria Hilf in Schwyz.
[16] In Chur.
[17] In lateinischer Schrift.
[18] In lateinischer Schrift.
[19] In lateinischer Schrift.
[20] In lateinischer Schrift.
[21] Seitenwechsel.
[22] In lateinischer Schrift.
[23] In lateinischer Schrift.
[24] In lateinischer Schrift.
[25] In lateinischer Schrift.
[26] Seitenwechsel.
[27] In lateinischer Schrift.
[28] „Avancieren“: aufsteigen, aufrücken.
[29] Gemeint ist der Burenkrieg (1899-1902) zwischen Grossbritannien und verschiedenen Burenrepubliken in Südafrika.
[30] Seitenwechsel.
[31] In lateinischer Schrift.
[32] In lateinischer Schrift.
[33] In lateinischer Schrift.
[34] In lateinischer Schrift.