Fürst Johann II. trifft auf Grundlage der "Schlossverhandlungen" Beschlüsse über die Grundsätze der Verfassungsrevision und über die Bestellung von Josef Peer zum Landesverweser


Maschinenschriftliche Abschrift einer Entschliessung, gez. Fürst Johann II., deren Richtigkeit durch Kabinettsrat Josef Martin, Vorsteher der Kabinettskanzlei, bestätigt wurde [1]

11.9.1920, Vaduz

I. Ich werde Meine Regierung beauftragen, dem Landtage ehestens eine Verfassungsrevisionsvorlage unter Einhaltung folgender Richtlinien zur Schlussfassung vorzulegen:

  1. Das Fürstentum ist eine konstitutionelle Monarchie auf demokratischer Grundlage; die Staatsgewalt ist im Fürsten und im Volk verankert und wird von beiden nach Massgabe der Bestimmungen der Verfassung ausgeübt.
  2. Der Landesfürst wird bei längerer Abwesenheit jährlich auf eine gewisse Zeit und ausserdem fallweise nach Bedarf einen Prinzen aus seinem Hause in's Land entsenden und ihn als seinen Stellvertreter mit der Ausübung ihm zustehender Hoheitsrechte betrauen.
  3. Die dem Fürsten und dem Landtage verantwortliche Kollegialregierung besteht aus dem Landammann als Vorsitzendem und zwei Regierungsräten mit ebensovielen Stellvertretern.
    Der Landammann und sein Stellvertreter werden vom Fürsten im Einvernehmen mit dem Landtage ernannt; die Regierungsräte und ihre Stellvertreter werden vom Landtage unter Berücksichtigung beider Landschaften gewählt.
    Bei Bestellung des Landammanns und seines Stellvertreters haben in erster Linie hiefür geeignete gebürtige Liechtensteiner in Betracht zu kommen.
    Wenn ein Mitglied der Regierung durch seine Amtsführung das Vertrauen des Volkes und des Landtages verliert, so ist der Landtag berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung des betreffenden Regierungsfunktionärs zu beantragen.
    Die Zuweisung der Geschäfte an die einzelnen Regierungsmitglieder wird durch eine vom Landtag zu beschliessende und vom Fürsten zu genehmigende Geschäftsordnung geregelt.
  4. Die gesammte Staatsverwaltung ist nach den Grundsätzen des Rechtsstaates unter Einführung eines Verwaltungsrechtspflegeverfahrens und Wahrung des Instanzenzuges zu ordnen und sparsam zu führen.
    Sämmtliche Verwaltungs- und Justizbehörden mit Ausnahme des obersten Gerichtshofes in Zivil- und Strafrechtssachen sind in’s Land zu verlegen.
    Ausserdem ist im Wege eines besonderen Gesetzes ein Staatsgerichtshof als Gerichtshof des öffentlichen Rechtes zum Schutz der staatsbürgerlichen Rechte, zur Entscheidung von Kompetenzkonflikten und als Disziplinargerichtshof für öffentliche Angestellte zu errichten. Seine Mitglieder sollen vom Landtage gewählt werden und wenigstens zur Hälfte gebürtige Liechtensteiner sein. Die Wahl des Präsidenten bedarf der landesherrlichen Bestätigung.
  5. Ausländer dürfen als Beamte nur mit Zustimmung des Landtages angestellt werden. Dieser ist auch berechtigt, beim Landesfürsten die Enthebung öffentlicher Funktionäre zu beantragen, die durch ihre Amtsführung das Vertrauen des Landtages und des Volkes verloren haben.
  6. Der Landtag hat zukünftig nurmehr aus gewählten Abgeordneten zu bestehen. Er ist je nach Bedarf, jedenfalls aber über begründetes schriftliches Verlangen von wenigstens 400 wahlberechtigten Landesbürgern oder über Beschluss von mindestens drei Gemeinden einzuberufen.
    Bei Abänderung der Landtagswahlordnung ist das Proportionalwahlrecht einzuführen und die Zahl der Abgeordneten im Verhältnis zur Bevölkerungszahl festzulegen.
    Der Landtag übt die Kontrolle über die gesamte Staatsverwaltung durch eine von ihm zu wählende Geschäftsprüfungskommission aus.
  7. Die Grundrechte der Bürger sind in der Verfassung eingehend und in zeitgemässer Weise festzulegen. Das Recht des Referendums und der Initiative ist mit Fixierung der Stimmenzahl einzuführen und zu regeln.
  8. Die Staatsaufgaben sind in der Verfassung mit besonderer Bedachtnahme auf die Beförderung der gesammten Volkswohlfahrt und die Schaffung von Gesetzen zum Schutze der religiösen, sittlichen und wirtschaftlichen Interessen des Volkes, zur Förderung des Unterrichts-, Erziehungs- und Pflegewesens mit spezieller Berücksichtigung der haus- und landwirtschaftlichen sowie der gewerblichen Fortbildung tunlichst eingehend zu umschreiben.
  9. Die Regelung der zoll- und handelspolitischen Beziehungen zu einem Nachbarstaate und die gesetzliche Ordnung des Geldwesens zur Überleitung in eine gesunde Währung sind mit möglichster Beschleunigung durchzuführen.
    Das Jagdwesen ist im Interesse der Landwirtschaft und der Gemeindefinanzen ehestens zu regeln.
    Der Ordnung der Landesfinanzen ist ein besonderes Augenmerk zuzuwenden; sie ist durch Erschliessung neuer Einnahmequellen und Schaffung gerechter Steuergesetze zu sichern.
  10. Im Interesse der arbeitenden Bevölkerung ist auf die Schaffung von Arbeitsgelegenheit im Lande kräftig Bedacht zu nehmen. Nach Zulass der Verhältnisse und der finanziellen Mittel des Landes ist möglichst bald die Einführung der Kranken-, Unfalls- und Altersversicherung in die Wege zu leiten.

II. Ich bestelle den Hofrat Dr. Josef Peer provisorisch auf die Dauer eines Jahres zum Leiter der Regierungsgeschäfte mit den Rechten und Vorzügen eines Regierungschefs und betraue ihn vornehmlich mit der Aufgabe, die ad I umschriebene Verfassungsrevision, die gesetzliche Ordnung des Geldwesens und des Landeshaushaltes, sowie den Abschluss der Zoll- und Handelsverträge mit einem Nachbarstaate durchzuführen.

Ich genehmige auch die Heranziehung eines katholischen Schweizerfachmannes zur beratenden Mitarbeit bei Einführung von Einrichtungen, die in der Schweiz gesetzlich geregelt sind und sich dort praktisch bewährt haben.

III. Ich erwarte, dass nunmehr auf Grund dieser Meiner Entschliessungen die politischen Parteien im Lande einmütig dem geplanten Reformwerke zum Wohle des Landes ihre Mitarbeit widmen werden.

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[1] LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 7. Ediert in: Die Schlossabmachungen vom September 1920. Studien und Quellen zur politischen Geschichte des Fürstentums Liechtenstein im frühen 20. Jahrhundert, hrsg. von der Vaterländischen Union, Vaduz 1996, S. 187–190. Das Dokument stammt aus dem Nachlass von Gustav Schädler und wurde von dessen Söhnen dem Parteiarchiv der Vaterländischen Union übergeben. Die Entschliessung beruht auf den Ergebnissen der Verhandlungen zwischen Vertretern der Volkspartei einerseits und Josef Peer und Josef Martin andererseits vom 10.9.1920 (vgl. LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 5). Die Entschliessung wurde am 13.9.1920 revidiert (LI PA VU, Schlossabmachungen, Nr. 8).