Emil Beck teilt der Regierung mit, dass die Forderungen des Churer Bischofs Georg Schmid von Grüneck zur Verfassungsrevision schweizerischem Recht widersprechen


Maschinenschriftliches Schreiben von Emil Beck, liechtensteinischer Geschäftsträger in Bern, an die Regierung [1]

21.7.1921, Bern

Seine Durchlaucht Herr Prinz Franz Liechtenstein sen. ersuchte mich, mit den zuständigen schweizerischen Behörden die Frage zu besprechen und Ihnen darüber Bericht zu erstatten, ob die vom Herrn Bischof von Chur [Georg Schmid von Grüneck] unterm 13. Mai ds. J. geäusserten Wünsche betr. die Verfassungsänderung und Einführung der Zivilehe [2] durchführbar seien, ohne dass bei einer spätern Verlegung der obern Gerichtsinstanzen des Fürstentums in die Schweiz nachteilige Folgen zu befürchten wären.

Die Anregungen des Bischofs von Chur gingen dahin: 

  1. In § 16 des Verfassungsentwurfes [3] nach den Worten: "Das gesamte Erziehungs- und Unterrichtswesen steht unter staatlicher Aufsicht" die Worte einzusetzen: "vorbehältlich des § 37".
  2. In § 37 nach den Worten: "Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet" die Worte einzusetzen: "mit Vorbehalt der Rechte Dritter".
  3. In § 37 nach den Worten: "Die römisch-katholische Kirche geniesst als Landeskirche den Schutz des Staates" die Worte einzusetzen: "nach Massgabe ihrer Rechtsnormen".
  4. Wenn die Zivilehe eingeführt werden sollte, sie nur fakultativ einzuführen, für Konfessionslose.

Nachdem ich nun mit dem Vertreter des Politischen Departements diese Frage besprochen habe, kann ich Ihnen folgendes als seine persönliche Auffassung mitteilen.

  1. Es unterliegt keinem Zweifel, dass alle die genannten Anregungen dem geltenden schweizerischen Recht widersprechen.
    Der Litera a dieser Anregungen wäre Art. 27, Abs. 2, der Bundesverfassung [4] gegenüberzustellen, welcher bestimmt, dass der Primarunterricht "ausschliesslich unter stattlicher Leitung stehen soll", während Abs. 3 sagt: "Die öffentlichen Schulen sollen von den Angehörigen aller Bekenntnisse ohne Beeinträchtigung ihrer Glaubens- und Gewissensfreiheit besucht werden können."
    Zu Litera b und c wären zu vergleichen Art. 49 BV.: "Die Glaubens- und Gewissensfreiheit ist unverletzlich." Abs. 2: "Niemand darf zur Teilnahme an einer Religionsgenossenschaft, oder an einem religiösen Unterricht, oder zur Vornahme einer religiösen Handlung gezwungen, oder wegen Glaubensansichten mit Strafe irgend welcher Art belegt werden." Abs. 4: "Die Ausübung bürgerlicher oder politischer Rechte darf durch keinerlei Vorschriften oder Bedingungen kirchlicher oder religiöser Natur beschränkt werden." Abs. 5: "Die Glaubensansichten entbinden nicht von der Erfüllung der bürgerlichen Pflichten." Abs. 6: "Niemand ist gehalten, Steuern zu bezahlen, welche speziell für eigentliche Kultuszwecke einer Religionsgenossenschaft, der er nicht angehört, auferlegt werden."
    Ferner Art. 50 BV.: "Die freie Ausübung gottesdienstlicher Handlungen ist innerhalb der Schranken der Sittlichkeit und der öffentlichen Ordnung gewährleistet." Abs. 2: "Den Kantonen, sowie dem Bunde bleibt vorbehalten, zur Handhabung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften, sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in die Rechte der Bürger und des Staates die geeigneten Massnahmen zu treffen."
    Zur Frage in Litera d bestimmt Art. 53, Abs. 1, BV.: "Die Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes ist Sache der bürgerlichen Behörden." Und Art. 54 BV statuiert in Abs. 1: "Das Recht zur Ehe steht unter dem Schutze des Bundes" und in Abs. 2: "Dieses Recht darf weder aus kirchlichen oder ökonomischen Rücksichten, noch wegen bisherigen Verhaltens oder aus andern polizeilichen Gründen beschränkt werden."
    Vom schweizerischen Standpunkt aus würde daher der Vorbehalt einer kirchlichen Gesetzgebung, kirchlicher Rechte in Erziehung und Unterricht und der kirchlichen Trauung als eine wesentliche Einschränkung der Souveränitätsrechte betrachtet. Einer Kantonsverfassung, welche eine dieser Bestimmungen enthalten würde, könnte die erforderliche Genehmigung durch die Bundesversammlung nicht erteilt werden.
  2. Der schweizerische Bundesrat wird jedoch die Übernahme der liechtensteinischen Rechtsprechung in den obern Instanzen nicht davon abhängig machen, dass das materielle Recht Liechtensteins mit dem schweizerischen übereinstimmt. Es ist sehr wohl denkbar, dass schweizerische Gerichte auch inhaltlich abweichendes fremdes Recht zur Anwendung bringen. Nur dürfen die fremden Rechtssätze nicht derart sein, dass die blosse Tatsache ihrer Anwendung durch schweizerische Gerichte den ordre public des schweizerischen Rechts verletzen müsste. Die vom Bischof gemachten Anregungen aber dürften kaum in diesem Sinne gegen den schweizerischen ordre public verstossen, trotzdem der schweizerische Gesetzgeber auf dem Gebiet der Gesetzgebung jede Einmischung der Kirche bestimmt ablehnt.
    In zwei Punkten wird jedoch der Zollvertragsentwurf die ausschliessliche Anwendung schweizerischen Rechts verlangen. Vor allem werden nämlich die ganze schweizerische Zollgesetzgebung und die damit zusammenhängenden Gesetze im Falle des Zollanschlusses auf Liechtenstein ausgedehnt werden müssen. Und sodann bleibt die ganze schweizerische Gesetzgebung anwendbar auf die schweizerischen Zollbeamten, welche in Liechtenstein Wohnsitz nehmen müssen, da sie sich namentlich zivil- und strafrechtlich nicht dem liechtensteinischen Recht unterstellen wollen.

Schon dieser letztere Punkt lässt es wünschenswert erscheinen, dass das liechtensteinische Recht dem schweizerischen angenähert wird. Noch mehr wird dies dann zutreffen, wenn die obern Gerichtinstanzen in die Schweiz verlegt werden. Jedoch haben die schweizerischen Behörden kein selbständiges Interesse an einer solchen Anpassung. Immerhin ist es möglich, dass die Durchführung der vom Bischof vorgeschlagenen Änderungen in der Schweiz die Opposition gegen den Zoll- und Justizvertrag verstärken würde.

Die eingangs gestellte Frage lässt sich somit dahin beantworten, dass der schweizerische Bundesrat in der Verwirklichung der vom Bischof gemachten Anregungen kein Hindernis für den Abschluss des Zollvertrages oder eines Justizvertrages erblicken würde, dass aber eine nachteilige Rückwirkung auf die Abstimmung in der Bundesversammlung nicht ausgeschlossen ist.

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[1] LI LA RE 1921/3290 ad 963. Aktenzeichen: "955. Verfassung." Am Kopf der ersten Seite stenographische Bemerkung. Das Schreiben langte am 22.7.1921 bei der Regierung ein. Regierungschef Josef Ospelt übergab gemäss eigenhändigem Vermerk vom 3.8.1921 eine Abschrift an Prinz Franz und legte das Schreiben dann "vorläufig" ad acta. Ein weiteres Exemplar unter LI LA V002/0461.
[2] Vgl. LI LA V 002/0461, Notiz von Kabinettsdirektor Josef Martin über die Besprechung vom 13.5.1921 mit Schmid von Grüneck, 21.5.1921. Der Bischof sprach am 13.5.1921 in Wien auch bei Fürst Johann II. vor. Kabinettsdirektor Josef Martin teilte Regierungschef Ospelt am 21.5.1921 mit, "dass den Wünschen, welche sich auf die einzelnen kleineren Klauseln in § 37 und [...] § 40 beziehen, Seine Durchlaucht zustimmen" (LI LA SF 01/1921/072).  
[3] LI LA RE 1921/0963, Regierungsvorlage von Josef Peer, 12.1.1921.
[4] Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29.5.1874 (BS, Bd. 1, S. 3-45).