Der Churer Bischof Georg Schmid von Grüneck legt Regierungschef Josef Ospelt die Gründe für die von ihm verlangten Änderungen am Verfassungsentwurf dar


Handschriftliches (eigenhändiges?) Schreiben des Churer Bischofs Georg Schmid von Grüneck an Regierungschef Josef Ospelt ("privat") [1]

18.8.1921, Lenzerheide

Mein lieber, hochgeehrter Herr Landesverweser!

Ich habe nicht ermangelt, die sehr wichtige Angelegenheit, die Sie in Ihrer w. Zuschrift vom 5. d. [Monats] behandeln, [2] in der Ordinariatssitzung vom 16. d. meinen geistl. Räten vorzulegen. Die beigeschlossene definitive Antwort [3] ist das einstimmige Resultat der Beratung.

  1. Der Entscheid betreff § 37 beruht auf der Lehre, dass ein kathol. Staat die Pflicht hat, die kathol. Kirche als unmittelbar göttl. Stiftung – so wie sie ist – anzuerkennen und zu schützen.
    Was Sie zur Ablehnung der Zusatzes zu § 37 – im Sinne des Verfassungsrates – vorgebracht haben, ist bewusster oder unbewusster Modernismus (siehe "der Modernismus" von Prof. Dr. [Anton] Gisler [4]) und die behauptete absolute Souveränität des Staates ist im Syllabus Pius IX. [5] als Irrlehre verurteilt. Sie selbst werden soweit Sie dem Verfassungsrat hier zugestimmt haben, diese unkatholische Anschauung wohl unbewusst von Ihren liberalen Amtsvorgängern eingesogen haben. Als katholischer Mann, für den wir Sie immer gehalten haben, machen Sie sich von dieser unkathol., unkirchlichen Anschauung los; sie ist für einen rechten Katholiken ein durchaus ungangbarer Weg!
  2. Die Antwort auf § 16 beruht auf der Lehre der Kirche, dass der Staat nirgends von Gott den Auftrag erhalten zur Erziehung der Menschen. Diesen Auftrag hat die Kirche allein erhalten ("Lehret alle Völker") [6] – und zwar unmittelbar von Christus – und mittelbar durch das Naturrecht haben die Eltern ihn erhalten. Der Staat hat allerdings ein Interesse an Erziehung und Unterricht und soll dabei berücksichtigt werden – aber nicht so, dass der Staat über die göttlichen Rechte der Kirche und der Eltern hinweg einseitig Gesetze erlässt. Wie das Individuum die Rechte anderer zu respektieren hat, so auch der Staat. Der § 16 ist – ohne Einschränkung – so ausserhalb aller kathol. Anschauung, dass er ohne Weiteres in einer heidnischen oder sozialdemokratischen Verfassung stehen könnte. [7] Und wenn der Bischof von Chur das Diözesan-Priesterseminar z.B. nach Bendern verlegen wollte, käme dasselbe – nach dem Wortlaute des Entwurfes – unter staatliche Aufsicht – eine Ungeheuerlichkeit, die nur das deutsche Kultur-Kampf-Gesetz des Jahres 1874 verlangte – aber – dank dem Widerstande der Bischöfe und der kathol. Parlamentarier nicht erreichte. [8]
  3. Die Antwort zum § 38 (Schlusssatz) beruht auf der Lehre der Kirche, dass Christus seine Kirche als eine vollkommene Gesellschaft gestiftet hat. Als solche trägt sie alle notwendigen Mittel in sich zu ihrem Bestande und zur Erfüllung der Aufgaben die Christus, ihr Stifter, ihr übertragen hat. Da sie nun zur Erfüllung Ihrer Aufgaben auch zeitliche Güter haben muss, bezieht sich die vom Gründer ihr verliehene Unabhängigkeit auch auf den Erwerb und die Verwaltung ihres Vermögens. Darum hat die Kirche stets die sog. Amortisationsgesetze [9] verurteilt und überhaupt jede Bevormundung in Verwaltung ihres Vermögens abgelehnt, weil sie weder minderjährig noch altersschwach ist. Im französischen Kulturkampf hat der hl. Vater Pius X. lieber das ganze Kirchengut geopfert als das Princip der freien Vermögensverwaltung preis zu geben. [10] Der Staat verwalte seine Güter und die Kirche die ihrigen, dieser Weg des Rechtes ist der einzige Weg zum Frieden.

Diese drei Punkte werden über die Stellung entscheiden, die der Bischof gegenüber der neuen Verfassung pflichtgemäss einzunehmen hat. Hat der Verfassungsrat die nötige Einsicht und kathol. Gesinnung, um für einen kathol. Staat eine katholische Verfassung zu machen, so bin ich der Erste, der über sie Gottes Segen herabruft. Wenn aber der Entwurf in den obigen drei Punkten nicht verbessert wird, bin ich als Bischof, der wie alle kathol. Bischöfe den Eid geleistet, die Rechte der Kirche zu schützen, im Gewissen verpflichtet, gegenüber einer die kirchl. Rechte verletzenden Verfassung Stellung zu nehmen. Hat doch der Papst Innocenz XI. an [Jacques Bénigne] Bossuet, den Kirchenvater der Irrlehre der Gallicanismus, [11] geschrieben: "die grösste Schmach eines Bischofes ist, die Freiheit der Kirche preis zu geben." Diese Schmach werde ich unter keinen Umständen auf mich laden. Und wenn ich s.Z. in Liechtenstein für den Bestand und die Rechte der rechtmässigen Obrigkeit in kritischer Stunde eingetreten bin, [12] weil es meine Pflicht und Schuldigkeit war, so werde ich auch in der Verfassungsfrage unbedingt meine bischöfl. Pflicht erfüllen. Es ist mitunter schwer, seine Pflicht zu tun, aber schwerer noch wäre es sie nicht getan zu haben!

In Bezug auf den 2. Teil unseres amtlichen Schreibens, welches einige "Anregungen" enthält, möge sich der Tit. Verfassungsrat frei entscheiden. In jedem Falle aber betrachten wir mit dem § 40 nur die staatliche Zensur, nicht aber die kirchliche als abgeschafft. Was in dieser Sache sehr zu bedauern ist, ist der Umstand, dass die dortige Behörde die Bestimmungen über jene Punkte, welche die Kirche und ihre Rechte berühren, einseitig aufgestellt hat, statt sich vorher mit den zuständigen kirchl. Organen zu verständigen – wohl auch infolge der unkirchlichen fortwirkenden Anschauung über das Verhältnis von kathol. Kirche und kathol. Staate – zu welcher Anschauung s.Z. Herr Landesverweser Baron [Leopold von] Imhof sich leider sattsam in Wort und Schrift bekannt hat.

Wir erwarten von der kathol. Gesinnung des Verfassungsrates, dass er zum Wohle des Landes sich daran erinnere, das der Katholik nicht nur im Privatleben, sondern auch im öffentlichen Leben sich an die kathol. Grundstütze zu halten verpflichtet ist. Dann wird ein unnützer Kulturkampf dem Lande erspart werden, das in den letzten Jahren leider mehr als erspriesslich der Unruhe und Unrast überantwortet war.

Mit Gruss und Segen und den besten Wünschen für den erlauchten Fürsten [Johann II.] und das kathol. Volk von Liechtenstein zeichnet – Ihren Nachrichten entgegensehend – Ihr sehr ergebener

am 24. d. bin ich wieder in Chur.

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[1] LI LA SF 01/1921/141. Ebd. ein weiteres, ebenfalls handschriftliches Exemplar. Die beiden Schreiben wurden Regierungschef Josef Ospelt übermittelt durch Landesvikar Johann Baptist Büchel (LI LA SF 01/1921/ad 141, Büchel an Ospelt, o.D.). Die Schreiben langten am 24.8.1921 bei der Regierung ein.
[2] LI LA SF 01/1921/134, Ospelt an Schmid von Grüneck, 5.8.1921.
[3] LI LA RE 1921/3690 ad 963, bischöfliches Ordinariat an Ospelt, 17.8.1921.
[4] Anton Gisler: Der Modernismus, Einsiedeln 1912.
[5] Der Syllabus errorum ("Verzeichnis der Irrtümer") ist eine Liste mit 80 als Irrtümer geächteten Ideen und Thesen, die Papst Pius IX. am 8.12.1864 als Anhang zur Enzyklika "Quanta Cura" veröffentlichte.
[6] Nach Matthäus 28, 19f. befahl Jesus den Jüngern: "Gehet hin, und lehret alle Völker, taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, und lehret sie alles halten, was ich euch geboten habe."
[7] Handschriftliche Randbemerkung von Ospelt: "trotz Art. 15?"
[8] In Deutschland setzte Reichskanzler Otto von Bismarck 1871-1875 eine Reihe von Anordnungen und Gesetzen durch, die gegen die katholische Kirche gerichtet waren.
[9] Bis Anfang 20. Jahrhundert hiess Amortisation im juristischen Sprachgebrauch die Vergabe von Gütern an die Tote Hand, d.h. an die Kirche und an andere Körperschaften und Stiftungen mit Vermögen, das der Vererbung und Veräusserung entzogen ist. Amortisationsgesetze waren Gesetze, die den freien Gütererwerb durch die Kirche sowie die kirchliche Steuerfreiheit einschränkten.
[10] 1905 etablierte Frankreich mit dem Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat (Loi du 9 décembre 1905 concernant la séparation des Églises et de l'État) das Prinzip des Laizismus. Papst Pius X. prostestierte gegen dieses Gesetz mit der Enzyklika "Vehementer nos" vom 11.2.1906.
[11] Anspielung auf die unter Führung von Bossuet verfassten gallikanischen Artikel von 1682, die die Befugnisse des Papstes gegenüber der katholischen Kirche Frankreichs beschränkten.
[12] Anspielung auf den Hirtenbrief vom 12.11.1918, in dem Bischof Schmid von Grüneck nach dem Regierungswechsel vom 7.11.1918 zu Dankbarkeit und Treue dem Fürsten gegenüber aufrief (LI LA SF 01/1918/ad 29).