Regierungschef Josef Ospelt erhebt Einwände gegen den Entscheid der Kabinettskanzlei, die Gesandtschaft in Wien aufzuheben


Maschinenschriftliches Schreiben von Regierungschef Josef Ospelt an Kabinettsdirektor Josef Martin [1]

27.9.1921

Sehr geehrter Herr Kabinettsdirektor!

Durch die am 25. d.M. in meine Hände gelangten geschätzten Schreiben vom 16. d.M. Zl. 119/6 [2], 119/8 [3] u. 119/7 [4] bin ich sehr überrascht worden.

Ich glaube anfangs Juli in Wien wiederholt mündlich zum Ausdruck gebracht zu haben, dass die Auflösung der Wiener Gesandtschaft einstweilen unterbleiben soll, um nicht den Vorwand zu nähren, das Fürstentum sei nun in gleicher Weise von der Schweiz abhängig wie früher von Österreich und um nicht in dem Augenblicke, in welchem eine eigene Vertretung bei der Cechoslovakei errichtet wird, die österr. Regierung etwa zu kränken. Meines Erinnerns hat Herr Hofrat Dr. [Josef] Peer meine Auffassung bestätigt und glaubte ich auch Sie mit mir einig gehend.

Ich habe gelegentlich einer Konferenz mit unserem Berner Gesandten [Emil Beck] den gleichen Standpunkt vertreten und ist es schon von diesem Standpunkte aus nicht recht zweckmässig, wenn eine derartige wichtige Verfügung ohne Einverständnis mit der fürstl. Regierung getroffen wird, abgesehen davon, dass nach den Grundsätzen des Verfassungslebens auch jede aussenpolitische Verfügung der Mitwirkung der Regierung bedarf.

Übrigens wird nach mir vorliegenden Mitteilungen [5] auch der offenbar zunächst verfolgte Zweck der Kostenersparnis durch die Übertragung der Vertretung bei Österreich an die Schweiz nicht erreicht, weil die schweizerische Gesandtschaft in Wien wie ich erfuhr für die liechtensteinischen Agenden einen eigenen Beamten auf Kosten des Fürsten bestellen wird, wofür ein Aufwand von 6000–8000 Frs. in Aussicht genommen sei.

Sodann halte ich die Übertragung der Vertretung auch solange für verfrüht, als nicht die Entscheidung über den Zollvertrag gefallen ist, weil insbesondere bei dessen Scheitern neue Verhandlungen wegen irgend eines Wirtschaftsvertrages mit Österreich zu führen sein werden und weil in einem solchen Falle der Vertreter eines fremden Staates, der an der Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes ein eigenes Interesse hat, kaum der rechte Vertreter sein dürfte, jedenfalls aber nicht versuchen dürfte, für uns günstigere Bedingungen zu erlangen, als sie sein eigener Staat besitzt.

Ich bin grundsätzlich nicht dagegen, dass im geeigneten Zeitpunkte eine Neuregelung bezüglich der Wiener Gesandtschaft platzgreift, halte aber den jetzigen Zeitpunkt für ungeeignet und muss auf alle Fälle darauf bestehen, dass derartige Massnahmen nicht über den Kopf der Regierung hinweg getroffen werden.

Ich bitte diesen bestimmten Ausdruck zu entschuldigen; es handelt sich hier nicht etwa um irgend eine persönliche Empfindlichkeit meinerseits, sondern um einen sehr wichtigen Grundsatz.

Eine Abschrift dieses Briefes sende ich an unseren Herrn Geschäftsträger in Bern, [6] mit dem Ersuchen, im Falle, als er infolge Ihres Schreibens vom 16. d.M. Zl. 119/8 nicht etwa schon entscheidende Schritte getan hat, einstweilen mit solchen zuzuwarten und ich bitte hochverehrten Herrn Kabinettsdirektor, mir die Gründe der im Gegenstande erflossenen Verfügungen ehestens mitteilen zu wollen. [7] Am zweckmässigsten dürfte es sein, wenn wir die Angelegenheit demnächst in Vaduz gemeinsam mit dem Herrn Legationsrat Dr. Beck behandeln könnten.

Auch für den in Bälde notwendigen Abschluss eines neuen Justizvertrages mit Österreich bezw. die Verhandlungen wegen dessen Aufhebung glaube ich, dass eine fremde Vertretung vielleicht etwas weniger geeignet sein dürfte.

Verschiedene andere Fragen werden ebenfalls in nächster Zeit mit Österreich noch zu regeln sein.

Mit der Versicherung meiner besonderen Hochschätzung zeichne ich als

Euer Hochwohlgeboren

ergebenster

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[1] LI LA SF 01/1921/ad 148.
[2] LI LA SF 01/1921/145, Erlass Kabinettskanzlei, 16.9.1921.
[3] LI LA SF 01/1921/146, Josef Martin an Emil Beck, 16.9.1921.
[4] LI LA SF 01/1921/144, Martin an Legationssekretär Alfred von Baldass, 16.9.1921.
[5] LI LA SF 01/1921/148, Baldass an Ospelt, 23.9.1921.
[6] LI LA V 002/0047, Ospelt an Beck, 27.9.1921; LI LA SF 01/1921/148. Zur Abschrift für Beck fügte Ospelt "vertraulich" bei, dieser solle "im Sinne der rot angestrichenen Stelle" (Absatz "Eine Abschrift [...] könnten") vorgehen.
[7] Martin rechtfertigte das Vorgehen der Kabinettskanzlei mit Schreiben vom 6.10.1921 (LI LA SF 01/1921/153).