Vier Ernste Bibelforscher werden vom F.L. Landgericht wegen der Verteilung antikatholischer Flugblätter in Ruggell, was den Straftatbestand der Beleidigung anerkannter Religionsgemeinschaften erfüllen soll, zu unbedingten Geldstrafen, zu bedingtem Arrest sowie zur Landesverweisung verurteilt


Maschinenschriftliche Urteilsausfertigung des F.L. Landgerichtes als Kriminalgericht, gez. Präsident Karl Weder [1]

11.1.1927  

Urteil

Im Namen seiner Durchlaucht des Landesfürsten

Das f. l. Land- als Kriminalgericht Vaduz hat unter dem Vorsitze seines Präsidenten Dr. Karl Weder im Beisein des f. l. Landrichters Dr. Julius Thurnher als Berichterstatter, der Kriminalrichter Andreas Vogt, Xaver Gassner und Gustav Ospelt, sowie des Schriftführers Viktor Eberle, über die Anklage der f. Staatsanwaltschaft gegen Heinrich Klingler und Genossen wegen Verbrechens nach § 122 St.G. [2] nach heute in Anwesenheit des öffentlichen Anklägers St. A. St. Ferdinand Nigg, der auf freiem Fusse befindlichen Angeklagten Heinrich Klingler, Heinrich Raschli, Hans Hungerbühler und Rosina Zogg [sowie] ihres Verteidigers Dr. Hug, Rechtsanwalt in St. Gallen, öffentlich durchgeführter Schlussverhandlung 

zu Recht erkannt:

1. Klingler Heinrich, geb. am 24. März 1879 in Mockisberg [!], zuständig nach Gossau St. Gallen, verehl., Saalarbeiter in Arbon,
2. Raschli Heinrich, geb. am 9. Mai 1882 in Homberg, zuständig in Arbon, verehl., Giesser in Arbon,
3. Hungerbühler Hans, geb. am 31. Dezember 1903 in Wil, zust. n. Arbon, ledig, Gärtner daselbst,
4. Zogg Rosina, geb. am 24. Sept. 1884 in Grabs, dort zuständig, ledig, Nachstickerin in Werdenberg,

sind schuldig,

sie haben am 8. Februar 1925 in der Gemeinde Ruggell ein Flugblatt der Internationalen Vereinigung ernster Bibelforscher betitelt "Offene Anklage gegen die Geistlichkeit" [3] verbreitet, und hiedurch die Lehren und Einrichtungen der katholischen Kirche herabzuwürdigen versucht. Sie haben hiedurch das Vergehen nach § 303 St.G. [4] begangen und werden nach derselben Gesetzesstelle unter Anwendung des ausserordentlichen Milderungsrechtes [5] und des Gesetzes vom 1. Juni 1922, L.G.Bl. Nr. 21, [6] unbedingt zu einer Geldstrafe von je Fr. 30.-, ferner bedingt zu je 24 Stunden strengen Arrest mit Probezeit von 3 Jahren, zur dreijährigen Landesverweisung nach § 305 St.G., ferner solidarisch zur Tragung der Kosten des Strafverfahrens und allfälligen Vollzuges und zur Bezahlung einer Urteilsgebühr von Fr. 40.- verurteilt. Ausserdem wird nach § 252 St.G. die Vernichtung der beschlagnahmten Exemplare der fraglichen Druckschrift angeordnet.

Gründe

Die Angeklagten haben zugestanden, dass sie in Ruggell am 8. Februar 1925 das Flugblatt "Offene Anklage gegen die Geistlichkeit" aus dem Verlage der Internationalen Vereinigung der ernsten Bibelforscher verteilt haben. Übereinstimmend bestätigen sie, den Inhalt des Flugblattes gekannt und dessen Bedeutung ermessen zu haben. Sie identifizieren sich auch mit dessen Inhalt. Die Bevölkerung von Ruggell ist sozusagen ausschliesslich röm. katholisch.

Das Flugblatt enthält entschiedene Angriffe auf die Lehren und Einrichtungen der katholischen Religion.

So wird die Lehre von der heiligen Dreifaltigkeit geleugnet und verhöhnt. Sie wird widersinnig und falsch genannt und als unsinnige Irrlehre bezeichnet. Diese Lehre ist aber die Grundlehre des Christentums. Mit ihr steht u. [7] fällt auch die Lehre der Menschwerdung Gottes und der Erlösung.

Des weiteren wird auch die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele geleugnet und verhöhnt. Es heisst in dem Flugblatt, diese Lehre sei ausschliesslich auf die Behauptung Satans gegründet, welche Jesus als die grosse Urlüge bezeichnet. Die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele ist aber die zweite Grundlehre des ganzen Christentums, ja diese Lehre ist Voraussetzung für jede Religion. Ohne Unsterblichkeit der Seele gibt es keine Verantwortlichkeit des Menschen und keine Verantwortung nach dem Tode.

Des weiteren wird die göttliche Stiftung der katholischen Kirche geleugnet. Die Kirche besitze nicht die wahre Nachfolge der Apostel. Der Lehrsatz von der Ewigkeit der Höllenstrafe sei eine gotteslästerliche Lehre. Die rechtmässigen Obrigkeiten hätten nicht göttlichen Ursprung.

Endlich verbreiten sie die verderbliche und lächerliche Irrlehre, dass Millionen von Menschen niemals sterben werden.

Nun sind nach dem Wortlaute der Behauptungen der Flugschrift die Lehren der katholischen Religion direkt verhöhnt und herabgesetzt. Die Flugschrift stellt nicht etwa nur ruhige Behauptungen auf, sondern bezeichnet die Lehren der katholischen Kirche als unsinnig, irrsinnig, widersinnig, gotteslästerlich, sie bezeichnet sie als Lehren Satans und dergleichen.

Das Flugblatt begnügt sich jedoch nicht mit dieser Herabsetzung von Dogmen, sondern greift auch gleich in der schwersten Weise die Einrichtungen der Kirche an. Besonders hat sie es, wie schon der Titel des Flugblattes sagt, auf die Geistlichkeit abgesehen. Sie sagt z.B. "diese treulosen Prediger haben Kirchensysteme gebildet, sich tituliert als Päpste, Kardinäle, Bischöfe, Pastoren, Pfarrer u.s.w., sich unrechtmässig als die Geistlichkeit bezeichnet ---".

Weiter heisst es, sie haben ihre geistliche Machtstellung missbraucht ---, sie haben sich geweigert, das Volk mit der Wahrheit Gottes zu nähren ---, die kirchlichen Würdenträger haben sich mit prächtigen Kleidern bekleidet, während sie das Wort Gottes und die Kraft desselben verleugnen. --- Sie haben es unterlassen und weigern sich, dem Volke die Botschaft vom Königreiche Christi zu predigen ---, sie haben sich angemasst, Gottes Königreich auf Erden ohne Gott aus eigener Kraft aufzurichten ---, Treulosigkeit gegen Herrn Jesus Christus ---, sie haben ihren Bund bezeugt mit dem Satan dem Gott alles Bösen ---.

Die geistlichen Herren haben sich selber als Quelle von Glaubenslehren eingesetzt ---. Alle 7 Punkte unter der Aufschrift "unwahre Lehren" enthalten zugleich Verhöhnungen der Geistlichkeit, indem ihr vorgeworfen wird, sie sei Urheber dieser und jener Lehre.

Unter der Aufschrift "Ursache der Weltkrisis" wird unter anderem gesagt, die Geistlichkeit wünsche mehr Behaglichkeit und Bequemlichkeit des Lebens, sie wünsche, von den Menschen geehrt zu werden, anstatt das Wohlgefallen Gottes zu suchen. Das habe die Geistlichkeit dahin gebracht, dem lockenden Einfluss Satans zum Opfer zu fallen und treulos zu werden gegen Gott und gegen den Herrn Jesus Christus.

Des weiteren werden die Geistlichen mit den Finanzleuten und Politikern als diejenigen bezeichnet, welche miteinander verbunden über das Volk herrschen als die Grossen der Welt, deren Gott und unsichtbarer Herrscher der Satan ist.

Unter der Aufschrift "Die Geistlichen" werden diese dargestellt als vollständig unter der Macht des Teufels stehend in ihrer Lehre, in ihrem Leben und in der Ausübung ihres Amtes.

Alle diese Behauptungen widersprechen den offenkundigsten Tatsachen und können nur den Zweck haben, die katholischen Einrichtungen und katholische Hierarchie, die kirchlichen Würdenträger und den Priesterstand in den Augen des Volkes zu verhöhnen und herabzuwürdigen.

Das Flugblatt enthält noch eine Reihe von anderen Herabsetzungen der Geistlichkeit.

Die vorgebrachten Beispiele genügen aber, um zu ersehen, dass das Flugblatt bewusst und systematisch darauf ausgeht, die Lehren und Einrichtungen der anerkannten Religionsgemeinschaften in den Kot zu ziehen. Es wird darin vom Christentum und speziell von der katholischen Religion ein Zerrbild gezeichnet und die Diener der Religion bezichtigt, die wahre christliche Lehre dauernd zu ignorieren, das Volk zu verführen und auf Irrwege zu leiten.

Die Lehren der ernsten Bibelforscher untergraben den christlichen Sinn und die geistige Gesundheit des Volkes, wo sie Eingang finden, müssen sie Verwirrung schaffen, denn durch die ganze Lehre der ernsten Bibelforscher geht die Forderung auf Zerstörung aller jetzt bestehenden Einrichtungen im religiösen, staatlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben unserer Zeit.

Es ist denn auch bezeichnend, dass z.B. verschiedene Schweizerkantone Verbote gegen die Wühlarbeit dieser Sekte erlassen haben und mit Recht hat das schweizerische Bundesgericht die von den ernsten Bibelforschern gepredigte Lehre als in "heftigem Gegensatze" zu den religiösen Ansichten der grossen Bevölkerungsmehrheit stehend bezeichnet.

Was nun die Qualifikation der Tat anbelangt, so nahm der Gerichtshof an, dass es sich nicht um das Verbrechen der Religionsstörung im Sinne des § 122 St.G. handle. Der Gottesbegriff als solcher wird schliesslich von den ernsten Bibelforschern auch anerkannt, er wird nicht gelästert. Es kann im Sinne des Gesetzes auch nicht gesagt werden, dass sie Unglauben zu verbreiten suchen, denn die Existenz eines persönlichen Gottes wird von ihnen nicht geleugnet.

Ganz zweifellos dagegen ist, dass der Tatbestand des Vergehens der Beleidigung einer gesetzlichen anerkannten Kirche im Sinne des § 303 St.G. voll erfüllt ist, denn in weitestem Umfange sind Lehren und Einrichtungen speziell der katholischen Kirche verspottet und herabgewürdigt.

Bei Bemessung der Strafe wurde als erschwerend angenommen die Häufung der Herabwürdigungen, dass die Angeklagten zu viert in ein fremdes Land kamen, um den religiösen Frieden der Bevölkerung zu stören, als mildernd hingegen das Geständnis und die Unbescholtenheit, der gute Leumund der Angeklagten sowie der Umstand, dass sie das Flugblatt nicht selbst verfasst, sondern es nur verbreitet haben und dass sie wohl im Auftrage anderer handelten.

Der Kostenspruch stützt sich auf § 285 STPO, [8] der Ausspruch einer Urteilsgebühr auf das Gesetz vom 1. Juni 1922, L.G.Bl. Nr. 22, [9] ausserdem wurde nach § 305 St.G. die Abschaffung der Angeklagten aus Liechtenstein für 3 Jahre ausgesprochen. Dies hauptsächlich, um klarzutun, dass die ernsten Bibelforscher im Fürstentum Liechtenstein mit ihrer Propaganda nichts zu suchen haben.

Nach § 252 St.G. musste auch die Vernichtung der beschlagnahmten Exemplare der Druckschrift ausgesprochen werden.

Fürstl. liechtenst. Land- als Kriminalgericht

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[1] LI LA J 007/S 057/038 (Ordnungsnummer: 14). Erledigungsvermerk von Landrichter Julius Thurnher vom 25.1.1927 betreffend die Eintragung in das Strafregister und betreffend die an die Rechtsanwaltskanzlei Johannes Huber in St. Gallen, für die Rechtsanwalt Hug arbeitete, zuzustellende Aufforderung (samt Urteil) zur Zahlung der Geldstrafen und Kosten. Ausfertigungsvermerk vom 28.1.1927.
[2] Vgl. das österreichische Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Übertretungen vom 27.5.1852, öst. RGBl. 1852 Nr. 117, welches im Fürstentum Liechtenstein mit Fürstlicher Verordnung vom 7.11.1859 rezipiert wurde (LI LA SgRV 1859). § 122 des Strafgesetzes stellte die Religionsstörung unter Strafe.
[3] Zwei Exemplare der inkriminierten Schrift finden sich unter LI LA J 007/S 057/038 (ohne Ordnungsnummer). – Vgl. in diesem Zusammenhang das Schreiben von Regierungschef Gustav Schädler an Landesvikar Johann Georg Marxer vom 26.1.1925 betreffend die nächtliche Verteilung von antikatholischen "Schmähschriften" (LI LA RE 1925/0391).
[4] Es handelte sich um das Vergehen der Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft.
[5] Vgl. § 266 des Strafgesetzes.
[6] Vgl. das Gesetz vom 1.6.1922 betreffend Abänderung des Strafrechtes, der Strafprozessordnung und ihrer Nachtrags- und Nebengesetze, LGBl. 1922 Nr. 21.
[7] Handschriftlich eingefügt: "steht u.".
[8] Vgl. die Strafprozessordnung vom 31.12.1913, LGBl. 1914 Nr. 3.
[9] Vgl. das Gesetz vom 1.6.1922 betreffend vorläufige Einhebung von Gerichts- und Verwaltungskosten und Gebühren, LGBl. 1922 Nr. 22.