Das "Liechtensteiner Volksblatt" berichtet über das Schicksal von Flüchtlingen in Frankreich


Artikel im "Liechtensteiner Volksblatt", nicht gez. [1]

31.10.1942

Flüchtlings-Schicksale

Tatsachenberichte

Im Jahre 1938 kamen sie beide von Österreich nach der Schweiz, ein junger Handwerker und seine Frau. Das Leben war schwer für beide und so entschloss sich die Frau kurz vor Kriegsausbruch nach dem nahen Elsass zu gehen, um dort Arbeit zu finden. Der Krieg kam, die Grenzen wurden gesperrt, beide waren getrennt. Während der Mann hier in der Schweiz in guter Fürsorge war, musste die Frau ins Interniertenlager. Als sie vor nicht allzulanger Zeit herauskam, machte nun der Mann alle Anstrengungen, um sie zu sich nach der Schweiz zu bringen. Nach langem Warten wurde der Frau vor einigen Wochen die Einreisebewilligung erteilt. Wie glücklich war doch der Mann, als er die Nachricht hatte, dass das Visum von Bern aus telegraphisch unterwegs sei. Doch die Frau kam nicht, dafür aber ein Schreiben eines Bekannten, dass die Frau bereits deportiert war, als das Telegramm einlief - eine Stunde zu spät! -

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Sie wohnten in Wien. Der Mann war Buchhalter in einem grossen Werk, die Frau Sozialbeamtin. Sie flohen 1938 nach Belgien, von dort nach Frankreich und, nachdem sie von den Konzentrationslagern in den Pyrenäen entlassen waren, nahmen sie in einem kleinen Städtchen der Gascogne Aufenthalt mit ihrem fünfjährigen Mädchen. Doch die Mutter ertrug die Qualen nicht. Sie starb vor einem halben Jahr. Zurück blieb der Vater mit seinem jetzt 7jährigen Töchterchen. Vor 14 Tagen kamen morgens um 2 Uhr die Gendarmen mit Tränen in den Augen und nahmen den Vater fort - deportiert! Und das Kind? Es blieb zurück. Vorerst wird es von der französischen Familie wohl besorgt werden; doch es bekümmern sich jetzt Schweizerfreunde darum, da die Verwandten in Amerika es unbedingt aufnehmen wollen.

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Irgendwo in einem kleinen Provinzstädtchen am Rhein wohnte die sechsköpfige Familie. Der Vater betrieb das ererbte Geschäft, eine altbekannte Buchdruckerei und brachte seine Leute gut durch. Die Mutter, eine frühere Lehrerin, versorgte das Haus und erzog die 4 Kinder, 2 Buben und 2 Mädchen. Die Kinder waren gerade in der Ausbildung und zwischen 11 und 17 Jahren. Da brach im Spätherbst 1940 das Unglück über sie herein. Mit dem Notwendigsten wurden sie abgeschoben; sie mussten Haus, Hof, Existenz und alles, was ihnen teuer war, zurücklassen. Sie landeten irgendwo in einem Lager in Südfrankreich, wo man sie zunächst in Baracken unterbrachte. Der Vater war getrennt von der Familie, die Mutter hatte die Kinder. Doch einmal in der Woche durfte er seine Familie sehen. Es vergingen schwere Monate. Die Mutter sah ihre Kinder immer magerer und hohlwangiger werden. Auch die Eltern litten sehr unter dem Hunger. Furchtbar lastete auf ihnen, dass keine Ausbildungsmöglichkeiten mehr bestanden. Dann wurde 1941 der Vater und der älteste Sohn zu Zwangsarbeiten nach einem nordfranzösischen Hafen geführt. Schwer erkrankt kamen beide nach einigen Monaten nach Südfrankreich ins Lager zurück. In einem Spital in den Pyrenäen liegt heute der Vater noch lungenkrank. Der älteste Sohn hielt aus, kam in ein Arbeitslager und hatte es so besser als die anderen, da er dort mehr zu essen bekam. Durch schweizerische Hilfsorganisationen konnten auch die beiden Mädchen ausserhalb des Lagers untergebracht werden, die eine in einem schweizerischen Kinderheim, die andere in einem französischen Haushalt.

Trotzdem es der Mutter nicht leicht fiel, sich von ihren Kindern zu trennen, war sie doch froh, weil sie wusste, dass sie nun besser verpflegt waren. Der Jüngste durfte bei ihr bleiben. Glücklich schrieben die Kinder ihren Eltern von der Freiheit. Glücklich waren sie, da sie nun wussten, dass das Wenige, das die Eltern hatten, ungeteilt blieb.

Da wurde vor einigen Wochen ein Strich durch dieses Leben gezogen. Mit Hunderten anderen Unglücklichen brachte man die Mutter und den Jüngsten in die bereit gestellten Viehwagen. Der Zug rollte ab mit unbekanntem Ziel.

Im Spital in einem Pyrenäen-Städtchen liegt der Vater. Die 2 Töchter schrieben ihm in letzter Zeit auch nicht mehr, ebensowenig wie der älteste Sohn. Wo werden sie stecken?

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[1] L.Vo., Nr. 127, 31.10.1942, S. 7. Vgl. den Spendenaufruf der st.gallisch-appenzellischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe im "Liechtensteiner Volksblatt" vom selben Tag (L.Vo., 1942.10.31a).