Emma Rheinberger an Alois Rheinberger über das Glockengeläut der Vaduzer Pfarrkirche, die Traubenfäulnis und die Weinernte, die Weinpreise in Zürich, ihre Erkrankung an Tuberkulose und die Liegekur in Arosa, die Stiftung eines Messkelches durch Olga Rheinberger, die Wohltätigkeit der verstorbenen Mutter Theresia Rheinberger [-Rheinberger] sowie die Bitte um eine Spende für die katholische Hauskapelle in Arosa


Handschriftliches Originalschreiben der Emma Rheinberger, Arosa (Graubünden), an Alois Rheinberger, Nauvoo (Illinois) [1]

25.10.1905, Arosa (Graubünden)

Lieber Herr Vetter!

Wie habe ich auf-
gejubelt, als ich ein Couvert mit amerikanischer
Marke, mit Ihrer Schrift sah. Hurrrah! nicht
klein war meine Freude! Sie liebes, liebes Vet-
terchen, lassen Sie sich Dank sagen, warmen
Dank! So in der Ferne empfindet man ein derar-
tig lb. Geschenk doppelt freudig u. ein Brieflein
von Ihnen hat sonst so viel Wert für mich, wie
2 andere. – Gott lohne Ihnen diese lb. g. Worte, die
ich nicht nur einmal las u. die alle X noch lange
in mir nachklingen wie lieblich‘ Glockengeläute.
Wir Vaduzer haben in unserm kl., aber schmucken,
gothischen Kirche eine wunderherrliche Glocke
darunter, sie schwingt die Seele empor u. es ist ihr
als ob sie sich hinauf jubeln u. singen möchte in
eine bessere Welt. Diese Glocke wird aber nur an
hohen Festtagen geläutet. – Gott sei dank, lb.
Vetter Sie sind gesund, auf’s Neue gesund geworden
in der Arbeit des Sommers, an der Kraft der Sonne! [2]
Ich weiss nicht, was ich mehr an Ihnen bewundere
(eigentlich fast ein bischen beneide): Ihre Gesundheit,
Ihre Willenskraft, od. Ihr unermüdlich Schaffen,
Wirken? – Hätte der Herr unser Gott doch mehr sol-
cher Getreuer in seinen Weinbergen, besser müsste es
um uns bestehen. – Wieder ist das Werk nun eines
Jahres getan, danken wir Gott für seine Gaben!
Freilich die Weinernte war bei Ihnen u. bei uns keine
gerade Freudvolle, aber wie viel freudige liess uns
der Himmel schon andere Herbste! – Die Traubenfäul-
niss war diesen Oktober so enorm gross [3], wie überhaupt
noch nie, dabei ein derartig schlimme Witterung, dass
ein Sonntag dazu genommen werden musste. So hatten
sie daheim denn an einem Tag 50 u. an einem andern
30 Personen dazu um schneller fertig zu werden. Meine
Schwester [Olga Rheinberger] schreibt, es war eine ganz unsäglich abscheu-
liche Verleserei der faulen Beeren u. sie hatte gerade
zu springen u. zu schreien unter d. vielen Leuten, dass
d. Fäulniss nur einiger Maasen entfernt wurde. Unsre
Weinkunden in Zürich sind furchtbar genau, zahlen
aber bisher auch schön: 72-75 Ct. pro Liter. Der weisse [4]
freilich ist nun garstig herunter gedrückt bis auf 18-20
Xr pr. Lt. – Unser diesjähr. Erträgniss beträgt nun halt
nur 4500 Lt. Welches Quintchen gegen d. Ihrigen! Es wäre
mir diesen Herbst eine schöne Ernte besonders lieb gewesen,
weil ich auf Arosa so viel koste, was mir gar nicht
eben liegt, Monatlich über 300 [5] frs. – Doch ist mir der
Wille – Gottes dabei über Alles tröstlich, er der wollte, dass
ich krank werde, wird es auch weiter machen, – sein
Wille sei geliebt! – Freilich schickt er mir noch eine
schwere Aufgabe zu lösen, die mir manch‘ heimlich Thrän-
lein kostet: den ganzen Winter [6] wahrscheinlich ver-
langt meine Lunge hier auf Arosa zu bleiben! –  Vetter-
chen, Sie einzig liebes, von ganzer Seele danke ich
Ihnen für Ihr barmherzig Gedenken meiner beim lb. Gott,
aber auch von ganzer Seele bitte ich Sie, noch einmal
Erbarmen zu haben, es noch einmal zu tun, dass
ich heim, heim [7] darf. – Übrigens habe ich hier schon
Schönes erreicht, schon 8 lb. (Pfund) zu genommen, ich
darf’s aber auch, denn mein ganzes Leben ja brachte
ich es kaum zum Schneidergewicht (diesen, d. Schnei-
der dichtet man bei uns 99 lb. !!! auf). Die hiesige [8]
Kur lautet d. einen Tag wie den andern „Liegekuren“
im Freien, v. Morgen, bis zum Abend, selbst in der
schärfsten Kälte u. diese kann hier bedeutend werden in die-
ser
[9] Höhe. – Man muss sich dabei einpacken wie die
Russen, das Fräulein Rheinberger ist in Arosa so wie so
bekannt, als ein verfrorenes Geschöpfchen, weil ich eben
gar wenig Speck besitze. – Seit 1. Oktober sind wir
fast beständig eingeschneit bei tägl. 4-6 ° Kälte. –
Das braucht dann schon viel guten Willen hinaus zu
liegen u. fast zu gefrieren. – Aber die Dr. finden
bei uns seit einigen Jahre die hohe kalte [10] Luft viel
besser für die Lunge, als die südliche, tiefe, Italien
z. B. lieber ganz zu meiden. – Hier auf Arosa fin-
det man so merkwürdig viel Sprachen vertretten,
besonders Engländer, Franzosen, Russen, Spa-
nier, Italiener u. ich meine auch fast Amerikaner,
im ganzen werden es gegen 2000 Fremde sein, –
ein sprechender, betrübender Beweis, wie erschreckend,
die dückische Krankheit über Hand nimmt. Ob
es die Wissenschaft d. Ärzte noch einmal so
weit bringe, ein Gegengift zu erfinden? – Ich
kam [11]
mit einem Spitzencatarrh hier her, als mich ein hie-
siger Spezialist dann untersuchte u. die Offenbarung
machte mein Spitzencatarrh wäre tuberkulös bis
zur 2. Rippe, hatte ich Anfangs freilich bitter schwere
Stunden zu durchkämpfen, ich arme Ahnungslose, –
es kam mir wie eine Wolke aus heiterm Himmel. – Doch
wenn Alles uns verlässt, Gott bleibt uns nahe, er half
mir weiter, er in seiner armen Behausung unten lässt
mich das Glück, dasselbe Dach mit ihm zu
teilen, geniessen, – er lässt mir Hoffnung wieder zu
gesunden, aber er allein [12], d. Dr., – ach wie immer besser
sieht man’s ein, wie erbärmlich machtlos sie sind.
In 10 Wochen nahm ich hoffnungsvoll zu, wie ich auch
sonst andere bedeutende Wendung zum Bessern aufzu-
weisen habe. – Die nächsten Tage erfolgt eine neue
Untersuchung, d. Dr. hofft nämlich, dass ich schon
keine Bazillen mehr. Möchte es doch Gott der All-
mächtige geschehen lassen, ich schreibe Ihnen dann gleich
d. Resultat. – Jedoch eine Bitte, lieber H. Vetter,
dasjenige, was ich Ihnen hier anvertraut, das gehört
Ihnen allein [13], nicht wahr, ich spreche sonst nicht gern [14]
über meine Gesundheit u. habe die Schwäche an mir, die
Leute nicht wissen zu lassen, dass ich krank. – Ausser mei-
nen Lieben daheim, wissen somit nur Wenige, dass es
tuberkulös bei mir gewesen u. deshalb, lieber, lieber H. Vet-
ter bitte ich Sie herzlich [15] Bertha Schauer gegenüber nichts
von meiner Lungenkrankheit zu erwähnen, nicht wahr?
Sie versprechen es mir [16]? – Wie komme ich dazu Ihnen
so viel von meinem Leid zu klagen? Vielleicht ist es
d. Bedürfniss es tun zu dürfen, einem Herzen das
Gott so nahe, um leichter zu tragen. Und noch bin
ich ja nicht fertig, darf ich Ihnen noch etwas klagen,
etwas das mir tief u. schwer im Herzen liegt? - Ach die
Armut unseres Herrn u. Gottes in der erbärmlichen Be-
hausung da unten kann ich gar nicht fassen u. nicht
liegen lassen. Könnten Sie das sehen, lb. H. Vetter,
es ist nicht nur ein Gefühl des Mitleides, der Weh-
mut, die eins dabei ergreift, nein fast geniren
muss man sich um d. lb. Heiland. – Die wenigen Katholi-
ken, die hier sind (ungefähr 10 katholische Kirchenpflich-
tige Kinder darunter) kommen mir so furchtbar lau u. gleich-
giltig vor, dass ich unwillkürlich an die Missionen bei [17]
d. armen Wilden denken muss. So duldet denn d. göttl. Hei-
land eine Armut hier die kaum im ganzen Ct. Graubünden
wiedergefunden werden dürfte. An d. Erbauung einer
Kirche ist noch auf Jahre u. Jahre hinaus nicht zu denken,
wenn nur sonst die grösste Not gedeckt werden könnte. – Für
die ärmliche Behausung, die d. lb. Gott neben d. Keller
unten bewohnt, muss er jährlich 900 frs. [18] bezahlen ! – ! –
Schrecklich! – Letzte Woche klagte mir Herr Pfarrer
seine Not über den Kelch, er sei so ärmlich, dass er
nächstens zu zusammenfallen drohe. Ist das nicht be-
trübend? schmerzlich u. beschämend? – Ich schrieb dann so-
fort nach Haus, wenn es Olga meine Schwester einiger
Maasen zu tun im Stande, wird sie einen neuen, ornd-
lichen Kelch bezahlen. Herr Pfarrer sagte mir, er hätte
einen in Aussicht um 300 frs. [19], eigentlich würde er 500 frs. [20]
kosten, aber er bekäme ihn um 300 frs. [21]. – Ich hoffe zu Gott,
dass ich diese Sorge nun beseitigt, dass mein herzensgutes
Schwesterlein dieses Schärflein der 300 frs. zusammenbringen wird, ach
wie unaussprechlich glücklich bin ich darüber! Nicht wahr,
man kann doch immer wieder die Erfahrung machen, dass
nichts, od. kaum etwas auf Erden so glücklich [22] macht [23]
als Almosen geben u. das Almosen einer Kirche dem
lb. Gott selbst [24] das sei das beste. – Ich las einmal:
ein Ei im Sinne u. aus Liebe Gottes als Almosen gegeben
hat, so lange man lebt, mehr wert, als ein Dom voll
Goldes nach dem Tode! – Alle Tage meines Lebens segne
ich mein gel. sel. Mütterlein [Theresia Rheinberger [-Rheinberger]], dessen grösstes Glück es
wol war, woltätig zu sein. – So wenig sie auch dazu hatte,
war sie darüber doch wol in ganz Liechtenstein bekannt,
als eine Mutter der Armen. – Ja – aber – mein gutestes,
liebstes Vetterchen, wenn ich nun d. Sorge um d. Kelch
auch beseitigt, wie viel der Not u. Armut bleibt dann
noch in d. armen Kapelle unten, od. „Kapelle“ kann ich
eigentlich nicht sagen, besser „die paar Wände“. – Um da ein bischen
nur weiter zu helfen, wandte ich mich an einen hiesi-
gen Kurgast, aber ich fürchte, od. hoffe auf weniges,
od. nichts. Dann schrieb ich einem Vetter nach Disen-
tis (Ct. Graubünden) meine Grossmuter väterlicherseits [Maria Elisabeth Rheinberger [-Carigiet]
stammt ja aus Disentis; d. lb. Gott hat ihn mit Gütern
gesegnet, – aber ach er scheint das Geld sehr lieb zu haben,
bisher antwortet er noch nicht, – dies Geld [25]! bekämen
d. Menschen doch einmal genug zu irdischer Freude
davon u. – könnten sie es doch auch einmal mitnehmen.
Liebes, liebes Vetterchen wollen Sie mich nun nicht
fortschicken, das Thürchen weisen, wenn ich an Ihr [26] [27]
edles, grosses Herz anklopfe? Anklopfe um eine
Gabe für unsern Herrn u. Gott, der hier,  – ach –
auf Almosen angewiesen. Nicht zürnen jetzt,
Herzens-Vetterchen, – nur jetzt nicht, über mich, wie
Sie jetzt gewiss denken, „frechen Bengel!“ Zürnen?
unserm Schöpfer, der uns Alles gegeben, dem Alles
gehört, der für uns d. ganze Seligkeit im Himmel
bereitet? Zürnen [28]? Nein, Vetterchen, seien Sie jetzt
gut u. lieb wie immer, sehen Sie, fast weinen müsste
ich ja, wenn Sie mir schrieben: „ich gebe Ihnen nichts
für den armen Heiland dort, so bitter auch seine Not.“
O, nicht wahr, dies sagen Sie mir nicht, nur dies Wort
nicht, ich bitte um Gottes Barmherzigkeit willen.
Ach wie viel, viel mehr hat Ihnen d. lb. Gott ge-
geschenkt als mir u. wenn Sie ihm ein wenig davon nur
wiederschenken wird er es Ihnen doppelt [29] (ich garan-
tiere
[30]) wiedergeben. – Wir hatten zu Hause einmal ein
Fässchen Wein, davon wurde fleissig für Arme u. Kranke
geholt, der Wein hörte nicht auf zu fliessen, fast
je mehr man davon nahm u. so besser lief d. Fässchen.
Das ging sofort, eine unglaubliche Länge, es war [31]
als ob uns d. Fässchen Wein auf d. Segen des Al-
mosens deuten wollten. –  Gewiss haben Sie diesen
Segen ja auch sichtlich 1000 X empfangen, wol-
len Sie aber nicht noch ein Edelsteinlein in Ihr
wolverdientes, goldenes Himmelskrönlein fügen, für
Sie, Ihre lb. Frau u. Kinder? – Ihr lb. sel., nun unend-
lich glückliche Frau im Himmel würde sie sich als
Graubündnerin nicht besonders freuen, was Sie ihrer
lb. Heimat
[32] tun? – Drüben über diesem Berge vor mir
hat sie gewohnt, – dies Andenken ergreift mich
immer ganz besonders, weil Sie mir so viel geworden
sind. – Desshalb segne Gott das Eintretten meines
Briefleins in Ihr Haus heute, – ach nicht abweisen
Vetterchen, bitte, bitte! –

Morgen ist Donnerstag dann muss ich zum Doctor mit
Angst u. Bangen, ich schreiben Ihnen dann gleich
d. Resultat. – Inzwischen bete ich recht, recht innig
bei dem lb. armen Heiland da unten, dass Sie mich heute verstehen,
dass er Sie segne immer, immer!

So ungern gehe ich heute von Ihnen,
als Ihre anhängliche
Emma Rheinberger.

Bitte Ihre lb. Kinder herzl.
zu grüssen gelegentlich. [33]

______________

[1] LI LA AFRh Ha 18. Brief in lateinischer Schrift.
[2] Seitenwechsel.
[3] Doppelt unterstrichen.
[4] Seitenwechsel.
[5] Unterstrichen.
[6] Unterstrichen.
[7] Unterstrichen.
[8] Seitenwechsel.
[9] Unterstrichen.
[10] Unterstrichen.
[11] Seitenwechsel.
[12] Unterstrichen.
[13] Unterstrichen.
[14] Seitenwechsel.
[15] Unterstrichen.
[16] Unterstrichen.
[17] Seitenwechsel.
[18] Unterstrichen.
[19] Unterstrichen.
[20] Unterstrichen.
[21] Unterstrichen.
[22] Unterstrichen.
[23] Seitenwechsel.
[24] Unterstrichen.
[25] Unterstrichen.
[26] Unterstrichen.
[27] Seitenwechsel.
[28] Unterstrichen.
[29] Unterstrichen.
[30] Unterstrichen.
[31] Seitenwechsel.
[32] Unterstrichen.
[33] Dieser Satz auf der 10. Seite hinzugefügt.