Jos. Rheinberger berichtet, dass mehrere Lehrkräfte am Konservatorium gekündigt hätten und wegen Klagen gegen den Dirktor die Schüler Prüfungen zu machen hätten. Er habe überzeugt. Um seine Belastung zu zeigen, gibt er seinen Stundenplan wieder.


Brief Josef G. Rheinberger an seine Eltern


München, 31.5.53
Theuerste Eltern!
Ihren werthen Brief vom 18. erhielt ich am 20. d. Monats, und es freute mich sehr zu vernehmen, dass Sie sich recht wohl befinden. Auch ich erfreue mich, Gott sei es gedankt, einer beständigen Gesundheit, so dass ich auch dieses Jahr keine Stunden versäumte. -
Seit Monat Mai nehme ich auch Kompositionsstunden bei Hr. Hauser (Sohn des Direktors) - auf seine Veranlassung. -
Merkwürdig ist, dass zu Ostern der beste Bassist, der beste Tenorist, die beste Altistin und Sopranistin (diese geben nun im Hoftheater zu Karlsruhe Gastrollen) ferners der beste Violinist und der beste Cellist ausgetreten sind - ebenso einer der besten Clavierspieler und ein Violinprofessor.
Dieser nun erhob beim Ministerium des Innern so viele Klagen gegen Hr. Direktor Hauser, dass wir alle glaubten, er werde pensioniert. (Worin eigentlich die Klagen bestanden, konnten wir jedoch nie zusammenhängend erfahren.) Es wurde eine Commission vom Könige abgeordnet, welche diese Klagen untersuchen, die Zöglinge prüfen und alles zu Papier nehmen sollte, was auch geschah. Diese Prüfung begann am Pfingstdienstag und dauerte bis Samstag, also 5 Tage von 8-1 Uhr und von 3-8 Uhr. -
Die Kommission bestand aus einem Ministerialrat - einem Professor der Universität [1], welcher ein sehr strenger Musiker ist und alle Prüfungen leitet, ferners ein Schulinspektor und ein Oberkonsistorialrat und Hofsänger Härtinger.
Die I. Prüfung, bei welcher ich etwas zu tun hatte, war Instrumental-Prüfung, wo ich vom Blatt spielen musste, was ganz gut ging. -
Dann war aber Contrapunkt. Da wurde nun mein Quartett aufgeführt, Hr. Direktor spielte Viola und ich musste dirigiren. Und die Herren hatten die Geduld, es ganz zu hören und fragten mich noch hernach, ob ich es ganz gewiss selbst gemacht hatte. -
Die Orgelprüfung dauerte nur 2 Stunden, weil nur 4 Schüler waren, mich traf davon 1 volle Stunde, welche mir ziemlich heiss machte. Da musste ich registriren, präludiren, die Passacaglia von Bach produziren, ferners musste ich in den 6 griechischen Tonarten Übergänge machen, und als ich glaubte fertig zu sein, schrieb der Prof. der Universität ein Fugenthema auf, welches ich im Stegreif zu Fuge machen sollte (das allerschwerste einer Prüfung). Ich spielte und sie sagten, es sei sehr gut gegangen. Weil ich seit dem Oktober spielte, war ich der erste, und gleich nach mir fiel einer total durch, welcher 4 Jahre lernte. Darnach sagten sie, ich hätte die schwerste und beste Prüfung gemacht.
Die Clavierprüfung dauerte von 5 - 9 Uhr abends. Es waren 12 Schüler des Hr. Prof. Leonhard, und sein Ältester (welcher 26 Jahre alt ist) wurde als jüngster anerkannt. Ich musste noch zuletzt ein Stück von Mozart vom Blatt spielen, welches der Reihe nach herum ging, wer es spielen wolle - und Ende gut, alles gut. Gestern (Montag) kam die kgl. Commission zum letzten Male und wohnte der Ensemble bei, wobei ich auf der Orgel accompagnirte und noch gestern wurden die Ergebnisse der Prüfungen fort an den König geschickt. Der Prof. der Universität hatte mich eingeladen zu ihm zu kommen. Ich ging auch hin und blieb 3 volle Stunden bei ihm. Da musste ich nun Partituren lesen, nämlich 'Iphigenie in Tauris', 'Alceste' von Gluck und mehrere Ouverturen von Mozart, alle aus 16 Zeilen. Da sagte er, diese Ouverturen hätte ich gewiss schon geübt und brachte nun Partituren von Abbé Vogler [2], welche nur er allein, und zwar die Handschrift, besitzt, und es freute ihn sehr, dass ich sie eben so gut spielte wie die andern. -
Nun sind die Prüfungen vorbei und ich danke Gott, dass alles so gut ging. -
Ich glaube, es wird Ihnen nicht unwillkommen sein, wenn ich hier die Stunden schreibe, welche ich im Conservatorium beschäftigt bin:

Montag von 8 - 10 Uhr Übung auf dem Pedal-Flügel, 10 - 11 Klavierstunde, 11 - 12 Orgelst., 2 - 4 Contrap.-Stunde, 4 - 1/2 5 Bibliothek, von 1/2 5 - 6 Instrumental-Ensemble.

Dienstag von 8 - 10 Übung, 2 - 4 Compositionsstunde, 4 - 6 Gesang-Ensemble.-

Mittwoch von 8 - 10 Übung, von 10 - 12 Orgelstunde.

Donnerstag von 8 - 10 Übung, von 10 - 12 Clavierstunde, von 4 - 6 Instrumental-Ensemble. -

F
reitag von 8 - 10 Übung, 10 - 12 Orgelstunde, 2 - 4 Contrapunkt, v. 4 - 1/2 5 Bibliothekverleihung, 1/2 5 - 6 General-Ensemble. -

In den Instrumental-Ensemblen übernehme ich immer die Clavier-Partien. In den Gesang-Ensemblen muss ich immer die Sänger auf der Orgel accompagniren. Weil ich nun dieses Jahr mehr Stunden (also auch mehr zu tun) habe, wird es Ihnen leicht erklärlich sein, dass ich gezwungen war, gegen Mitte Mai die französische Stunde aufzugeben. Um jedoch nichts zu vergessen, übe ich mich immer in freien Stunden.
Was die Ausgaben betrifft, welche ich noch haben werde bis zur Heimreise, kann ich nicht leicht angeben, denn die vielen kleinen Ausgaben sind schwer im Vorhinein zu berechnen, wahrscheinlich werde ich mir noch ein Paar neue Stiefel machen lassen müssen. -
Hr. Professor Herzog hat gesagt, ich solle in der Vakanz eine Kunstreise mit ihm machen, um Orgelkonzerte zu geben. Er glaubt, wir würden die Kosten schon herausschlagen. Vielleicht schreibt er Ihnen darüber, weil er gesagt hat, ich solle ihm Ihre Adresse geben. Hr. Prof. Herzog hat auch ein Werk in Druck gegeben, welches mir gewidmet ist.
Für die Feldkircher Orgel ist es ewig schade, dass das Pedal nur 18 - anstatt 27 Tasten hat, weil sie nun zum Concertspielen untauglich ist. Ich habe mich schon so darauf gefreut, nun aber ist es nichts. Ich habe nun schon 5 Hefte Orgelkonzertstücke abgeschrieben und gelernt, im Falle ich mit Hr. Prof. Herzog gehen könnte.
Dass Hr. Grundbuchführer Hassur bei den 400 fl geschnupft haben wird, habe ich schon gedacht.-

Ich denke, dass mein opus II gut, obschon langsam vorwärts geht, denn ich kann natürlich nur mit Unterbrechung daran arbeiten. Auf der Ludwigsorgel spiele ich noch immer, auch auf der protestantischen Orgel 2 mal wöchentlich von 7 - 8 früh. In der neuen Wohnung ist die Entfernung die nämliche (vom Kons.) wie in der alten. Ich habe ein schönes Zimmer, schöne Aussicht u. viel zu thun. -
Was macht die liebe Mutter? - Ich glaube, ich sehe den Toni schon arbeiten an meinen Heften. - Was macht der David? Was die Josepha, das Lise und erst die Virtuosin AMALIA mit ihren Tonleitern; freut sie sich, bis ihr Plaggeist wiederkommt; dass sich's der GEOMETER, RHEINBERGER PETER, nicht schlecht gehen lässt, denk ich mir schon. Indem ich alle von Herzen grüsse, und Ihnen, theuerster Vater, herzlich danke für die vielen Wohlthaten, die Sie mir angedeihen lassen,
verbleibe ich
Ihr dankschuldiger Sohn
Joseph Rheinberger

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[1] einem Professor der Universität = Professor Schafhäutl.
[2] Abbé Vogler Abt Georg Joseph Vogler (1749- 1814), Organist, Theoretiker und Komponist. Schafhäutl schrieb eine Biographie Voglers, die 1888 in Augsburg erschien (Reprint: 1979 Hildesheim + New York).