J.G. Rheinberger schreibt, dass es eigentlich nichts zu erzählen gebe, ausser vielleicht von Emil, der ständig Geld suche. Sein grosses Octet und die 50 Variationen, die er in den Ferien geschrieben habe, fänden grosse Anerkennung.


Brief an die Eltern
9. November 1861, München


Theuerste Eltern!
Obschon Mali bisher den correspondirenden Secretär machte, so ist es doch schon längst an der Zeit, von meiner Seite an Sie zu schreiben - und heute ist seit nahezu drei Wochen der erste ungestörte Abend hiezu. Erwarten Sie aber desswegen noch nicht einen Sack voll Neuigkeiten - höchstens Emil hätte Stoff liefern können. Wie fabelhaft er allen meinen Warnungen zu Trotz, gewirthschaftet, darüber hat Ihnen Herr Pfarrer v. Türkenfeld schon berichtet. Emil wich mir die meiste Zeit aus - kam nur hie und da um nachzusehen, ob kein Geld für ihn gekommen - und das immer zu einer Zeit, wo er mich nicht zu Hause wusste. Als der Hr. Pfarrer ihn mit einigen Schwierigkeiten nach Weihenstephan expedirt hatte, zog ihn Emil dort noch so blank aus, dass ich ihm (Herr Pfarrer) Geld lehnen musste, um nach Türkenfeld zu kommen. Für Alles sagte ihm Emil kein Vergeltsgott, nein, er benahm sich, als wenn Alles Pflicht und Schuldigkeit wäre. Kurz, ich habe die Überzeugung gewonnen, dass in Emil der Stoff zu einem vollendeten Taugenichts steckt. Es sollte mich freuen zu irren. Seit 3 Wochen hörte ich nicht mehr von ihm.
Herr Vetter Wolfinger erzählte mir lachend, dass Emil geklagt hätte: der Rentmeister und der Pepi seien eigene Leute, mit denen sich nichts machen liesse.
Julius Maiers sind aus Frankreich zurück; sie waren in Seebad Dieppe und Paris; sie liessen sich den Vaduzer trefflich munden.
Für die Trauben lasse ich dem Lisi herzlichst danken, Mali hat mir aber fast alle gegessen. Ich habe wieder viel zu thun, von früh bis spät, bin aber leider nicht so wohl als in Vaduz, obschon ich so mässig als möglich lebe und nun wenig mehr rauche; hoffentlich ist es mit völligem Eintritt des Winters wieder gut - denn bis jetzt sahen wir weder Eis noch Schnee. -
Im nächsten grossen Abonnementsconcert (18ten Nov.) will Lachner das grosse Octett [1], welches ich in den Ferien geschrieben, aufführen, nebstem war mir von Dresden aus die Aufführung desselben zugesagt; ich habe ein wenig Angst auf dieses Concert, da ich in dieser Art noch nichts geschrieben. Meine 50 Variationen [2] (auch aus den Ferien) spielte ich vor einiger Zeit dem berühmten Pianisten Mortier de Fontaine [3] (wahrscheinlich künftigen Conservatoriumsdirector) vor; er beurtheilte sie so günstig, über alle Erwartung schmeichelhaft, dass ich Anstand nähme, sein Urtheil sogar in diesem Briefe zu schreiben. Auch Lachner, Maier und Schafhäutl sprachen sich äusserst lobend darüber aus.
Wie steht es in Vaduz? Es sei ja wieder ein neuer Assessor in Aussicht, dessen Name orthodox genug rieche. Ist Peters Neubau schon bezogen? Die zwei Maler liessen mir (da ich sie selbst nicht sah) einen Gruss von zu Hause ausrichten. Wie steht es bei uns zu Hause, hoffentlich gut? Peter werde ich bald schreiben und dem David, inzwischen grüsst alle herzlichst,

hauptsächlich Sie, Beste Eltern!
Ihr dankbarster Sohn
G. J. Rheinberger.

München 9.11.61.

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[1] Octett = Oktett in Es-dur (JWV 132), komponiert in Vaduz im Sommer 1861, umgearbeitet und um eine Flöte erweitert 1884. Es erschien ein Jahr später als Nonett op. 139.
[2] 50 Variationen = vermutlich die 1860 komponierte Erstfassung von "Thema mit 37 Veränderungen" op. 61
[2] Henri Louis Stanislaus Mortier de Fontaine (1816 - 1883), Pianist. Er nahm als einer der ersten Werke Rh's in seine Programme auf.