2. Tagebuch von Fanny Rheinberger vom 16.05.1870 bis 12.07.1870


Tagebuch der Franzsika Rheinberger:


/T.B.2,6/ Montag, 16. May 1870.

Gestern kam der herrliche Nussbaum zum letztenmal zu Curt. Er fasste noch einmal die ganze Krankengeschichte Curt's zusammen und sagte, Dr. Posselt und Lotzbeck seien .zu gute Chirurgen, als dass sie den Zustand Curt's nicht erkannt hätten, sie haben nur gefürchtet, energisch einzugreifen, weil sie dachten, ihr Ruf könne leiden, wenn die Sache schlecht ausginge. Sie sollten aber nach Gewissen und Wissenschaft gehandelt haben und Gott, dem Herrn über Leben und Tod, das Resultat überlassen haben. Er wiederholte, dass Curt nahe daran war, einer Eitervergiftung zum Opfer zu fallen. Curt war bedrückt, als er unser Haus ganz verliess.

Dienstag, 17. May /1870/.

Gestern ging Curt zum ersten Male auf die Musikschule. Es lagen Blumen auf einem weissgedeckten Tische - die Schüler empfingen ihn im schwarzen Fracke und Grossmann aus Leipzig hielt eine Rede an ihn. Der gute Curt war gerührt davon. Curt ist nun fast den ganzen Tag auf der Strasse.

Das Wetter ist ganz wunderbar schön. Heute kamen Druckbogen der 4-stimmigen Volkslieder [1] und die Operette "Der arme Heinrich" mit sehr niedlichem Titelblatte und schönem Stiche im Verlag von W. Schmidt, Nürnberg-München.

Mittwoch, 18. May /1870/.

Curt sehr wohl; (ich weniger). Die Theoriestunde gegeben von 8 - 10 Uhr und Nachmittag von 3 - 5 Orgel. Die Wunde eitert noch etwas, doch ist sie schon zur Hälfte geschlossen mit jungem Fleisch. Curt ist ganz entzückt von dem herrlichen Maygrün. Er geniesst es!

Donnerstag, 19. /Mai 1870/.

Sitzung in der Musikschule. Vorher bei Gampenrieder Eis. Curt freute sich über das schöne Grün und die perlenden Brunnen im Hofgarten.

Freitag, 20. /Mai 1870/.

Curt copirt sein Capriccio alla Tarantella [2]. Wir waren wieder viel zusammen in der guten warmen Luft. Ich fürchte, die Drüse schwillt wieder an.

/T.B.2,7/ Montag, 23. /Mai 1870/.

Ankunft der Einzeldrucke der drei Concertstücke für Clavier [3] von Breitkopf.

Ankunft der 4-händigen Arrangements der Musik zur Unheilbringenden Krone und zum Wunderthätigen Magus von Fritzsch.

Dienstag, 24. /Mai 1870/.

Curt schickte an Possart die Musik zu Magus und Krone, weil dieser Schauspieler der Einzige war, der wahrhaft rege Theilnahme hatte. –

Mittwoch, 25. /Mai 1870/.

Zusammen Nachmittag bei Dusmann in der Theatinerkirche gewesen. Glücklich! - Curt hat Rheumatismus. Abends noch die "7 Raben" nebst Textbuch verpackt, um sie morgen an Lanke in Leipzig zu senden. - Ich fing an, das Requiem zu übersetzen, damit auch eine deutsche Übersetzung mit ihm erscheint. Curt ernstlich vorgestellt, dass wir diess Requiem im Herbste im Oratorienverein singen sollen. Es gibt aber viel Arbeit.

Donnerstag, /26. Mai 1870/, Christi Himmelfahrt.

Mit Curt in der Kirche zur H. Communion. Gott sei Dank. Nach dem Frühstück komponirte er zu Hause ein weiches Clavierstück [4].

4. Juni /1870/.

Obwohl Curt nicht dazu verpflichtet wäre, schickte er doch an Bonn ein Exemplar des armen Heinrich.

Curt stellt jetzt seine 4-stimmigen lateinischen Hymnen [5] zusammen. Ich arbeitete an der Über- und Untersetzung des Requiems.

Pfingstsamstag, 5. Juni 1870.

Gestern kam auch das grosse Trio von Rheinberger, op. 34, für Clavier, Cello und Violine, Franz Lachner gewidmet, an. Es ist bei Sigl-Linnemann in Leipzig gedruckt. Ein grosses dickes Heft.

Lachner ist beim Musikfest in Aachen als Dirigent. Auch die Hymne für 4 Frauenstimmen mit Harfenbegleitung, op. 35, "Wie lieblich sind Deine Wohnungen", ist nun bei Sigl erschienen und sehr hübsch ausgestattet. Seit einem Jahr sind 12 Opus (sic) von Curt erschienen, und noch unter der Presse das grosse Quatuor, Jairi Töchterlein, 4-stimmige Lieder und eine grosse Fuge mit Praeludium.

Die Beethovenfeier in Weimar scheint eine Verhimmelungsfeier Franz Liszt's gewesen zu sein.

10. Juni /1870/.

Aus Leipzig Brief von Forberg eingetroffen mit der Bitte an Curt, er möge ihm wieder Clavierstücke a la Italien schikken. Er scheint mit ihnen gute Geschäfte gemacht zu haben. Nun schickte Curt 2 Hefte, 6 fugirte Tonstücke [6] für Clavier enthaltend, die auch einzeln gedruckt werden können.

Heute ist der Jahrestag unseres erstmaligen, gemeinschaftlichen Musicirens. Wir spielten damals ein 4-händig arrangirtes Te Deum von Hasse und spielen es nun alljährlich wieder um dieselbe Abendstunde.

Holstein schrieb, die Liszt- und Viardot-Vergötterung bei der Beethoven-Feier in Weimar sei ekelig gewesen.

Beethoven war natürlich Nebensache. Man sprach nur "Er" und "Sie", als gäbe es auf der Welt nur ein Paar!!-

12. /Juni 1870/.

Curt schickte heute an Lachner sein ihm gewidmetes Trio. Wir stellten 7 Lieder für ein neues Heft [7] zusammen, da Sigl-Linnemann Lieder wünschte

 
/T.B.2,13/ den 9. Juli 1870

Curt freute sich natürlich, dass sein jüngstes Kind: von mir Capriccio giocoso [8] getauft, von Sigl-Linnemann sogleich angenommen wurde. Nun ist die symphonische Sonate [9] beim Copiren. Sie wird wohl auch ihre Freunde finden.

Heute war Juli-Glüh-Hitze. Curt freute sich an dem warmen Sommerwind, als wenn er ihm zum erstenmale um die Ohren bliese.

Er arbeitete heute an der Instrumentirung des Sturmes aus Magus, während ich beim III. Akte des Bardentextes für Franz Lachner bin. Abends sang ich mit Begeisterung und Liebe die Hedwig-Pacher-Lieder [10], die aber doch alle für und durch mich geschaffen wurden. Jetzt bewundert Curt des frisch geschorenen Scarli tiefes, melancholisches Auge. Die überschwenglichen Walküre-Recensionen sind nicht so lustig zu lesen, als die komisch-wahren der Allgemeinen Zeitung.-

Sonntag, den 10. Juli /1870/. 

Curt erhielt ein hübsches Briefchen von Holstein aus Leipzig mit den gedruckten Musikbriefen Moritz Hauptmann's, in denen er vor und nach Tische schwelgte. Seine eignen Anschauungen klar von andern dargelegt zu sehen, thut fast physisch wohl - besonders jetzt in der unerguicklichen Walkürenzeit.-

Curt arbeitet noch am Sturm.

Müller Hartung aus Weimar wollte Curt besuchen, traf ihn aber nicht. Curt lernte indessen Abert aus Stuttgart [11] kennen. Auch er ist unsrer gesunden Ansicht bezüglich der Walküre.

Montag, 11. Juli /1870/  

Heute hatten wir die Freude, Abert bei uns zu sehen. Er blieb lange. Sein warmes Herz hat mich gleich recht für ihn eingenommen. Die beiden Herrn klangen harmonisch zusammen

/T.B.2,17/ in ihren Anschauungen über Kunst. Auch Abert findet den Walkürentext so grenzenlos frech. Zum Glücke hat auch die unabhängige Presse nur eine Ansicht - nehmlich unsre. Abert lud Curt ein, seine Wallensteinsinfonie in nächster Saison in Stuttgart zu dirigiren.

Abends kamen 6 Exemplare der 6 Tonstücke in fugirter Form  für Clavier von Curt an. Ein Exemplar erhält wieder die Hof- und Staatsbibliothek hier. Nachmittag war Curt in der Musikschule, um der Einstudierung eines Quartetts seiner Schüler beizuwohnen, und Abends wurde er in den academischen Gesangverein geholt, wo sie seinen „Zopf“ und ein Heidelberger  Studentenlied [12] von Rheinberger singen. Morgen ist Vorstellung, wozu wir hingehen wollen.-

Nach Tisch half ich ihm, graues Jöppchen und Weste kaufen. Die Hitze ist betäubend. Curt arbeitete noch am Magus-Sturm.  

Den 12. Juli /1870/  

Abends hatten wir die Freude nebenan bezeichnete Chorlieder von circa 100 Sängern zu hören. Die Lieder gefielen ungemein und der Componist musste sich mehrmals gegen das  Publikum verneigen. Das Lied der Zopf hat eine äusserst massvolle Comik. So bezeichnend alle einzelnen Figuren sind, so lässt sich Curt doch nicht hinreissen, da und dort länger zu verweilen und die gedrungene Kürze erhält den Hörer in  voller Theilnahme. Wir sassen am Ehrentische, auf welchem der silberne Pokal stand, welchen unser König dem Akademischen Verein geschenkt hat. Alt und Jung kam zu gratuliren.

 

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[1] Nicht zu bestimmen; Irrtum von Fanny?
[2] Capriccio giocosa für Pianoforte, op. 43.
[3] Op. 5: Nr. 1 "Die Jagd", Nr. 2 Toccatina, Nr. 3 Fuge.
[4] "Romanze", später aufgenommen als Nr. 3 in "Sechs charakteristische Stücke" op. 67.
[5] Vgl. dazu das Ende des Briefes von Hedwig von Holstein an Fanny Rheinberger vom 29.04.1870.
[6] Sechs Tonstücke in fugierter Form, op. 39 (Vgl. dazu Tagebucheintrag vom 09.10.1869).
[7] "Zeiten und Stimmungen" Sieben Lieder für Gesänge für Mezzosopran und Klavier, op. 41; komp. 1862-1866; erschienen 1871 bei C. F. W. Siegel in Leipzig.
[8] Op. 43.
[9] Klaviersonate Nr. 1 in C-dur, op. 47 ("Sinfonische Sonate"), komp. 1864, erschienen 1871 bei Rob. Forberg in Leipzig.
[10] Sieben Lieder, op. 26, Fräulein Hedwig von Pacher gewidmet.
[11] Johann Joseph Abert (1832-1915), Kapellmeister der Hofkapelle Stuttgart (bis 1888) und Komponist.
[12] Aus: "Drei vierstimmige Männerchöre" op. 44 (Nr. 3 Tragische Geschichte " 's war einer, dem's zu Herzen ging, dass ihm der Zopf so hinten hing", Text Adalbert von Chammisso, und Nr. 2 "Alt Heidelberg, du feine...", Text von J. V. v. Scheffel.)