Rezension des Unterhaltungsblattes der Neuesten Nachrichten (München, Nr. 52 vom 30. Juni 1870, S.620-624) über die Uraufführung von Richard Wagners "Walküre" am 26. Juni 1870 in München.


Rezension im Unterhaltungsblatt der Neuesten Nachrichten vom 30.06.1870 über die Uraufführung zu Wagers "Walküre" , die exemplarisch ist für den Sinneswandel, der sich Wagnerschen Werken gegenüber im Publikum vollzog. Unter dem Titel "Kunst und Literatur" heisst es dort unter anderem:


Und wiederum stehen wir vor einem musikalischen Drama Wagner's, um das in wildem Getümmel der Streit der Parteien anhebt.

Während die Einen in diesen fünf Stunden, welche sie der Walküre willen im Theater zugebracht haben, die Fleischwerdung des Musikheilandes feiern, schreien die Anderen, gequält durch die Erinnerung an die Schmerzenszeit, die sie im Theater verlebt haben, ihr "Kreuziget ihn!". Mit gleicher Aufregung, gleichem Aposteleifer will Jeder für seine Anschauung Proselyten machen, die Einen Alles ohne Ausnahme hochpreisend, die Andern Alles ohne Kritik und Auswahl ablehnend. Wir haben nicht vor - obgleich es bequemer und vielleicht pikanter wäre - den extremen Parteien zu dienen; denn wie so oft liegt auch hier die virtus in medio. Das eiserne, selbstbewusste, titanenhafte Streben, die riesige, durch keine Macht der Konvenienz beeinflusste Arbeit eines Mannes allein schon verdient Achtung, die ungebrochene Ausdauer Wagner's, auf den Wegen, die er als die richtigen hält, seinem Ziel entgegenzustreben, erfüllt uns mit Respekt und die Ausserordentlichkeit seines Wesens uns doppelt schätzenswerth, wenn wir das ewige Schwanken der Anschauungen um uns betrachten, wenn wir sehen, wie sonst die grossen Geister ihren ästhetischen Glauben fast so wie ihre Kleider wechseln. Eben diese Achtung, die wir dem schaffenden Charakter Wagner's entgegentragen, ist es aber auch, die uns zwingt, sein Werk nicht mit dem althergebrachten Massstab zu messen und an seine Thätigkeit nicht Forderungen zu stellen, welche er als eines dramatisch-musikalischen Kunstwerkes unwürdig, nie zu erfüllen gelobt hat. Ihm ist Einheit des Gusses, vollste Übereinstimmung

der Musik mit der poetischen Handlung und der szenischen Darstellung das Einzige und Höchste, was er anstrebt, das Charakteristische steht ihm höher als das Relativschöne, es auszusprechen scheut er sich nicht zum Hässlichen zu greifen, Wahrheit ist ihm die unbedingteste Forderung für die Schöpfungen der Kunst. Und wer sich nicht auf diesen, vor Wagner wohl selten mit gleicher Strenge und Rücksichtslosigkeit betonten Standpunkt zu stellen vermag, ist unfähig, in dem Streite für oder gegen Walküre ein zureichendes Urtheil abzugeben. Wenn der gute Wille fehlt, der musikalischen Dichtung in ihren Details zu folgen, wer das Musikleben der Welt mit Mozart oder den leichter verständlichen Werken Beethovens für abgeschlossen und der weiteren Entwicklung für unfähig hält, der wird allerdings gut thun, das Theater zu meiden, wo die Walküre ihr Unwesen treibt.

Aber wer im Stande ist und Willens ist, eingedenk der Worte Hans Sachs: "Wollt' ihr nach Regeln messen - was nicht nach eurer Regeln Lauf - der eignenen Spur vergessen - sucht davon erst die Regeln auf!" - objektiv diesem Werke gegenüberzutreten und dem Dichterkomponisten in seinem Wollen nachzugehen, der wird sicherlich - auch wenn er sich mit manchen Dingen nicht befreunden kann - Vieles finden, was ihn mit Bewunderung und Hochachtung gegen das riesige Talent Wagner's erfüllt.

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