Hedwig von Holstein lädt Franzsika Rheinberger mit Gemahl nach Oberstorf ein


Brief von Hedwig von Holstein an Franziska Rheinberger


Oberstorf bei Sonthofen im Allgäu, d. 7.9.1870

Liebe Freundin!

/…/ In der nächsten Stunde erwarte ich Freunde, da besinne ich mich, von was die mich abhalten könnten, & alle Briefschulden fallen mir em. Unter diesen günstigen Umständen, & aus so liebevollem Drange hole ich mein Tintenfass in den Grasgarten, das ungezogene Ding hatte sich erst so herzlich über Ihre Empfehlung gefreut! - & nun verweht mir der Wind in einem Moment hundert Mal das Blatt. Das soll Alles nichts schaden, gelt? -

Sie kommen her, sobald Sie flott sind & von oder nach Oberammergau reisen. Sie haben nur noch 1 1/2 Monat, verschieben Sie es nicht zu lange. Die Schneeschauer im Gebirg kommen gar früh & sind doch nicht angenehm. Auch sollen die Vorstellungen, wie ich höre, an Unmittelbarkeit, Frische & Einfalt verlieren, was durch die often Wiederholungen & durch das Einreden der fremden Zuschauer wohl denkbar ist. -

Die kleine Reise von Oberammergau hierher ist gerade sehr anziehend, mitten durch's Gebirge, per Einspännerle, ein Päärchen wie Sie - können Sie sich was verlockenderes denken? Sie fahren Ammergau, Reute, Schattenwald, Hindelang, Oberstorf - wenn Sie Pferde wechseln, in einem Tag bei frühem Aufstehen; behalten Sie dasselbe Gefährt, in 1 1/2 Tag mit lieblichem bescheidenen Nachtquartier in Tannheim oder Schattenwald oder Hindelang. Leider können Sie nun nicht mehr bei uns wohnen - ich spreche wie der Fuchs von den Trauben (denn ich weiss noch nicht, ob Sie gewollt hätten), weil jetzt Susette Hauptmann & Töchterchen auf 14 Tage kommen, & dann mein Mutterl, so Gott will, & Mitte Sept/ember/ corrigirt Ihr Gemahl wahrscheinlich schon wieder falsche Quinten & Octaven & verbietet, den Leitton zu verdoppeln. Aber Wohnung giebt es jetzt noch in Oberstorf & wenn Sie auf einem Hügel wohnen mögen, so ist ganz nahe bei uns ein prachtvoll gelegenes Bauernhaus mit zwei bescheidenen Stuben. Ich würde Ihnen gar zu gerne Wohnung besorgen. Es ist gar herrlich hier, nicht so lieblich, wie in Tegernsee, aber grossartig & vielseitig. Man kann 5 Wochen lang täglich einen anderen Gebirgsweg machen, wenn man gut zu Fuss ist. Mein Franz ist Gott sei Dank glücklich & wohl hier, hat seine 20 Flaschen Sprudel verschlungen & ist 2/3 mit seinem letzten Act fertig. Das Instrumentiren freut ihn aber nicht, er macht sich oft einen freien Tag, nur um loszukommen.

Gestern sind wir 8 1/2 Stunden gelaufen, auf Schnee, Felsen & grünem 'Wasen' [1] herum, haben Genzianen [2] gepflückt & mitten in Alpenrosen geschlafen, nach einem Diner in der Sennhütte von mir bereitet. Unsre Wohnung ist gar lieblich,  wir hoffen, sie auf mehrere Jahre zu mieten; Herr 'Zu' hat nicht recht gehabt mit seinen Nahrungssorgen, wir sitzen an den Fleischtöpfen Ägyptens & mästen uns. Ist das nicht lockend? Ich bin schon so materiell geworden, dass mir alles Gedankliche vergangen ist, wie Sie an diesem Briefe merken werden. Wo wird er Sie treffen? Lassen Sie Gnade für Recht ergehen & schreiben Sie bald Ihrer
Hedwig von Holstein"

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[1] Bayerisch-alemannisch für Rasen, Wiese.
[2] Recte: Enziane.